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15.04.2025 - Warum Maryam auf einmal eine Chance hat - ein Bericht von Miriam Falkenberg


Seit zwei Jahren habe ich das Vergnügen, eine Schülerin zu begleiten, die sehr viele großartige Eigenschaften in sich vereint, allen voran ihren Wissensdurst und ihre Neugier. Sie heißt Maryam - eine arabische Namensvetterin meines Namens* - ist zwölf Jahre alt, und sie ist definitiv verantwortlich für meinen durchlöcherten Bauch, so viel fragt sie mich bei jeder unserer Begegnungen. 

Eine Folge aus unserer Reihe "Erfolgsgeschichten". Die Autorin Miriam Falkenberg arbeitet seit seit 17 Jahren als Sozialpädagogin bei den Ambulanten Erziehungshilfen (AEH) unserer Münchner Einrichtung SBW-Flexible Hilfen.


* Die Erziehungsberechtigten und auch Maryam selbst sind mit der Namensnennung einverstanden.

Im Partnerinnen-Look: Miriam und Maryam beim Backen. Der Spaß kommt bei den beiden nie zu kurz. Alle Fotos: privat
 
Maryam wäre das perfekte "Fragenkind" für die Sendung mit der Maus. Es können ganz harmlose Fragen sein, etwa wie ein Briefkasten funktioniert, wie schnell Bäume wachsen, und welche Zutaten man für Pfannkuchen braucht.
 
Aber sie stellt auch immer mehr Fragen, über die ich erst ein wenig nachdenken muss. Hier eine Auswahl aus der Kategorie philosophische Fragen:
"Warum kann aus einem süßen Baby ein böser Mensch werden?"
"Wozu leben wir eigentlich?"
"Warum werden manche Menschen Lehrer, die offensichtlich nur genervt sind von uns Kindern oder uns hassen?"

Zur Kategorie theologische und religiöse Fragen gehören zum Beispiel:
"Muss ich Allah wirklich alle meine guten und schlechten Taten vorweisen, damit ich in den Himmel komme?"
"Muss ich wirklich ab zwölf Jahren ein Kopftuch tragen?"
"Warum gibt es verschiedene Religionen, wo es doch nur einen Gott für alle geben kann?"
 

"Warum werden manche Menschen Lehrer, die offensichtlich nur genervt sind von uns Kindern oder uns hassen?"

Maryam (12)


Maryam mit ihrer Mutter Asfa beim Garteln am Hochbeet.
 
Die Kategorie politische Fragen entwickelt sich derzeit zu ihrer Top-Kategorie, darunter Fragen wie:
"Warum bekommt mein Vater immer noch keinen Pass?"
"Warum war ich noch nie im Heimatland meiner Eltern?"
"Wer hat in Deutschland das Sagen?"
"Werden wir ausgewiesen, wenn die AFD die stärkste Partei wird?"
 
Zuweilen baue ich vor Maryam ganze Landschaften aus Figuren auf, um ihr die (welt)politische Situation zu veranschaulichen. Vieles weiß sie auch aus der Schule, in der die Klasse oft "Logo", den Kindernachrichtenkanal, ansieht. Maryam saugt alles wie ein trockener Schwamm auf. Als sie im Hilfeplangespräch von der Bezirkssozialarbeiterin gefragt wurde, ob sie - neben den bereits vereinbarten Zielen - noch weitere habe, sinnierte Maryam: "Ich möchte, dass mir Frau Falkenberg weiter die Welt erklärt."

"Als Maryams Mutter Asfa zehn Jahre alt war, wurde sie an einen Haushalt in Dubai verkauft. Denn ihre Mutter (also Maryams Oma) wusste nicht, wie sie ihre Kinder durchbringen sollte. Asfa wurde bei einem Flug nach München von ihren Brotgebern einfach am Terminal München ausgesetzt wie ein Hund an der Raststätte."


Zum ersten Mal Aufmerksamkeit und Fürsorge

Dass sich Maryam alles selbst zusammenpuzzeln, ihre Weltwahrnehmungen einordnen und sortieren muss, hat damit zu tun, dass ihre Eltern aus Äthiopien kommen, wo sie in einfachsten Verhältnissen als Ziegenhirten aufgewachsen sind. Beide Eltern können nicht oder nur sehr wenig lesen und schreiben. Die Mutter, nennen wir sie Asfa, hat eine Intelligenzminderung. Und sie braucht für alles etwas länger als andere Menschen. Als sie zehn Jahre alt war, wurde sie an einen Haushalt in Dubai verkauft. Denn ihre Mutter (also Maryams Oma) wusste nicht, wie sie ihre Kinder durchbringen sollte.
 
In dem Haushalt reicher Leute hat Asfa Gewalt erfahren. Sie konnte die an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllen. Sie wurde bei einem Flug nach München von ihren Brotgebern einfach am Terminal München ausgesetzt wie ein Hund an der Raststätte. Asfa kam ins Münchner Waisenhaus und bekam zum ersten Mal Aufmerksamkeit, Fürsorge und Förderung. Ehren- und hauptamtliche Personen standen der kleinen Frau mit der freundlichen Ausstrahlung schnell zur Seite und sind es bis auf den heutigen Tag zum Teil geblieben.
 
Ihren Mann hat sie dann bei einem Treffen äthiopischer Landsleute kennengelernt. Inzwischen leben die beiden getrennt. Asfa arbeitet seit einigen Jahren als Spülerin in einer Kantine, der Vater ist Paketbote. Beide haben darauf bestanden, über den ersten Arbeitsmarkt Anstellung zu finden.

Maryam beim Volksfestbesuch.
 

Maryam will nicht nur alles wissen, sie beschäftigt sich auch gern.
 

Eines ihrer Hobbies ist backen.
Nicht dieselben Chancen

Vor knapp zehn Jahren hat sich dann ihre Tochter angekündigt, ein Kind in einer sogenannten bildungsfernen Familie. Ein Kind, das zunächst einmal nicht dieselben Chancen hat wie andere Kinder. Bei Maryam ist jedoch von Anfang an so vieles so gut gelaufen. Es gibt, wie erwähnt, ein großes Helfernetz.
 
So beispielsweise Sandra Käsmeier vom Unterstützungsnetz für kognitiv eingeschränkte Menschen. Sie lebt mit ihrer Familie auf einem Bauernhof bei München. Mutter und Tochter werden jedes Jahr dorthin für ein paar Tage eingeladen. Es gab von Anfang an auch zwei ehrenamtliche Helferinnen, die sich unter anderem um die Finanzen der Familie kümmern, um Jobsuche, Wohnung und um alles, was so in einem Haushalt zu beachten ist. 
 

Maryam hat eine kreative Ader.
Hier läuft es gut! 

Die Reihe "Erfolgsgeschichten" befasst sich mit dem Arbeitsalltag in unseren Einrichtungen. Im Fokus stehen sollen dabei nicht die Dinge, bei denen es hakt, oder die Probleme, die noch zu lösen sind, sondern die positiven Entwicklungsschritte, die erreichten Zwischenziele, die großen und kleinen Erfolge. Im Arbeitsalltag übersieht man diese nämlich nur allzu leicht. Dabei können Klient:innen wie Betreuer:innen daraus Kraft für die noch anstehenden Herausforderungen schöpfen.

Die Ambulanten Erziehungshilfen wurden involviert, als Maryam in die zweite Klasse kam und klar wurde, dass die Mutter mit dem System Schule zunehmend an ihre Grenzen stößt. Maryam merkt nun immer mehr, dass ihre Eltern anders sind als die Eltern ihrer Neuhausener Mitschüler:innen. Dass sie Nachrichten über den Schulmanager nicht lesen können, dass sie sie nicht im Einmaleins abfragen und kaum Ausflüge machen. Am Wochenende besucht sie die Koranschule. Sonst gibt es nicht sehr viel Abwechslung. Dass ein "B" in dem kostenlosen MVG-Ticket der Mutter steht und Maryam hier die Begleitperson der Mutter ist.
 
Und doch geben ihr die Eltern, vor allem die Mutter, das Wichtigste: Ein großes Herz voller Liebe und echtes Interesse. Und den Willen - ja, den Auftrag - dass Maryam in Deutschland voll dazugehört, dass sie eine gute Bildung und einen deutschen Pass bekommt. Die Mutter hat oft ein sehr gutes Gespür für Maryams Bedürfnisse und ihre Stimmungen. Wie in allen Familien ringt sie mit ihr um die Begrenzung von Medien- und Handykonsum.

Dass Maryam sich selbst als ein Mensch mit der Hautfarbe von Vollmilchschokolade bezeichnet, erzählt etwas über ihr Selbstbewusstsein, aber auch etwas über ihre mächtige Vorliebe für alles Süße und sagt als Drittes etwas über die Tatsache aus, dass sie noch nie schlechte Erfahrungen aufgrund ihrer Hautfarbe gemacht hat. Quietschfröhlich wirbelt sie inmitten ihrer Freundinnen von Hort und Klasse in der Grundschule umher.
Und so erkunden wir als Maryam-Miriam-Duo zusammen die Welt
 
Bei uns in der AEH gibt es Zeit, Maryams Fragen nachzugehen. Ich habe mit im Blick, wenn sie neue Kleider braucht oder ein neues Fahrrad. Wenn es zum Optiker oder zum Zahnarzt gehen muss, wenn es darum geht, eine Nachhilfe für das Wochenende zu organisieren. Es gab und gibt Zeit, mit ihr das Museum "Mensch und Natur" sowie die Stadt jenseits ihres Viertels und die Isar zu erkunden - ab diesem Jahr vielleicht auch vermehrt mit dem Fahrrad. Es steht an, einen Sportverein zu suchen und die nächsten Ferien zu planen. Es gab Zeit, einen Selbstbehauptungskurs für Maryam zu suchen, damit sie sich im öffentlichen Raum sicherer fühlt und ihre Ängste in den Griff bekommt. Es gab und gibt Zeit, ein gemeinsames Kochbuch anzulegen, in dem neben dem vielen Gesunden auch das Süße nicht zu kurz kommt. Maryam ist ein Vorzeigebeispiel, wie AEH klassisch-präventiv wirken kann. Wir sind anscheinend füreinander ein Glücksfall - ich als Gegenüber für ihre Fragen und Bedürfnisse und als Verständigungsbrücke zwischen ihr und ihrer Mutter. Und sie für mich in ihrer Art, sich offen und fröhlich für Neues zu öffnen und auf fast jeden Vorschlag "Ja" zu sagen.
 
Auch so kann AEH aussehen. Als eine Erfolgsgeschichte von Anfang an.