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09.10.2020 - Verschwörungsmythen und Corona - Die Jugendhilfe im Fadenkreuz



Andreas Schrötter (40) arbeitet als Sozialpädagoge bei der KJF in München. Er beschäftigt sich unter anderem mit den Auswirkungen gesetzlicher Regelungen auf den Alltag der Betroffenen. Foto: privat
 

Mit Courage dem Hass die Stirn bieten

Heute braucht es nicht mehr als eine aus dem Kontext gerissene Stellenanzeige oder ein sperrig formuliertes Behördenschreiben – und schon prasselt auf eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe ein heftiger Shitstorm nieder. Andreas Schrötter vom Salberghaus plädiert in seinem Kommentar für einen couragierten Weg.
 
„Bill Gates hat das Corona-Virus erschaffen, um die Welt zu regieren und die Menschheit durch Zwangsimpfungen zu kontrollieren!“
 
„Die Bundesrepublik Deutschland existiert nicht, das Deutsche Reich ist immer noch ein besetztes Land, da kein rechtsgültiger Friedensvertrag existiert!“
 
Die Corona-Proteste, die sich zurzeit vermehrt formieren, vereinen Menschen aus verschiedensten Milieus und Richtungen. So marschieren etwa auf den „Querdenker“-Demonstrationen Menschen Seite an Seite, deren Weltbild zwar politisch und ideologisch auf den ersten Blick unvereinbar scheint, die aber dennoch durch die angebliche Demokratiefeindlichkeit der Corona-Maßnahmen zusammengeschweißt werden. Doch wie kommt es zu einer Dynamik, die sich schließlich in unfassbaren Bildern wie dem „Sturm auf den Reichstag“ entlädt? Warum entkoppeln sich Gruppen von Menschen derart von unserem Staat, unseren Werten und unserer Gesellschaft?
 
Basis einer solchen Entwicklung ist oftmals eine diffuse, teils auch berechtigte Angst vor einem Corona-bedingten wirtschaftlichen Abstieg und Sorgen um die Zukunft. Sie werfen der Regierung Inkompetenz und böswillige Absicht vor, sie rufen: „Alles unnötige Panikmache!“ oder „Das ist doch alles so gewollt!“ oder „Die Regierung will unsere Wirtschaft zerstören“. Hinzu kommt ein Geflecht von widersprüchlichen Informationen, Halbwahrheiten und angeblichen Expertenmeinungen, die ungefiltert und sensationsheischend durch die Medien gepeitscht werden und ein komplexes und kaum zu überschauendes Bild der Corona-Lage ergeben – für viele ein beunruhigender und überfordernder Zustand.
 
Diese Ängste und Unsicherheiten bieten politischen Extremisten die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen und eine wachsende Unzufriedenheit zu nutzen, um ihre kruden Botschaften zu verbreiten. Diese erreichen als Verschwörungsmythen auf Social-Media-Kanälen eine große Reichweite. Sie klingen unglaubwürdig und wirr, treffen bei vielen aber einen Nerv. Denn sie bieten einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte, sie unterteilen die Welt in „gut“ und „böse“ und können einem auch die Last der Eigenverantwortung nehmen. Wenn dunkle und geheime Mächte agieren, ist der Grund für eigene Probleme bequem gefunden. Und falls, wie etwa durch das rechte Verschwörungsnetzwerk Quanon behauptet, der „Deep State“ ein weltweites Netzwerk von tausenden Kindersklaven für eine elitäre und pädophile Führungsschicht unterhält, wer will da nicht auf der Seite der „Guten“ stehen?
 
Stellenanzeige reicht für Hass und Hetze

Gerade die zuletzt erwähnte „Theorie“ hat mittlerweile leider den Boden dafür bereitet, dass auch Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe vermehrt in den Fokus von politischen Brandstiftern und Verschwörungstheoretikern geraten. So geschehen bei der Diakonie Michaelshoven Anfang August dieses Jahres. Der bei Köln beheimatete Träger der Kinder- und Jugendhilfe hatte eine Stellenanzeige online gestellt, in der eine "Pädagogische Fachkraft (m/w/d) in einer Inobhutnahme für Kinder und Jugendliche in Quarantäne" gesucht wurde. Für das Fachpersonal, welches mit dieser Stellenanzeige angesprochen werden sollte nichts Ungewöhnliches. Inobhutnahmen nach §42 SGB VIII werden von den Jugendämtern als letztes Mittel im Sinne des Kindeswohls eingeleitet, um massiv gefährdete Kinder und Jugendliche vor ihrem bisherigen Umfeld, zumeist dem engsten Familienkreis, zu schützen. Und in Zeiten der Corona-Pandemie werden junge Menschen, die neu in eine Inobhutnahmestelle kommen, und bei denen eine Infektion mit Corona nicht ausgeschlossen werden kann, eben kurzzeitig unter Quarantäne gestellt, um die anderen BewohnerInnen und das Fachpersonal abzusichern.
Ein Screenshot dieser Stellenanzeige verbreitete sich in der Folge wie ein Lauffeuer auf rechten Blogs. In Chatgruppen der Bewegung „Querdenken“ wurde sogar dazu aufgerufen, sich auf die Stelle zu bewerben; man solle nachfragen, welche Qualifikationen man mitbringen müsse, „um anständigen, fürsorglichen Deutschen die Kinder wegzunehmen“.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anzeige war denkbar ungünstig, denn am gleichen Tag titelte die Berliner Zeitung: „Bei Corona-Verdacht! Gesundheitsamt will Eltern die Kinder wegnehmen“. Hintergrund des Artikels waren Schreiben mehrerer Gesundheitsämter, die Eltern dazu auffordern, ihre Kinder bei einem Corona-Verdacht vom Rest der Familie zu isolieren. Sollte dies nicht eingehalten werden, könne man prinzipiell veranlassen, dass die Kinder für die Dauer der Quarantäne in „geschlossenen Einrichtungen“ untergebracht werden. Von den entsprechenden Stellen wurde kurz darauf klargestellt, dass eine Trennung von Kindern und Eltern auf keinen Fall beabsichtigt sei, es sich bei den Formulierungen lediglich um rechtlich notwendige Sätze handele.
 
Morddrohungen gegen Mitarbeitende

Im Fall der Diakonie wurde nun von den einschlägigen Verschwörungsideologen beides bewusst miteinander vermengt: Eine verkürzt wiedergegebene, aus dem Kontext gerissene Stellenanzeige für Fachpersonal und ein unglücklich formuliertes, in sperrigem Amtsdeutsch verfasstes Behördenschreiben. Komplizierte Sachverhalte verkürzen, aus dem Kontext reißen, neue Zusammenhänge im Sinne der eigenen Agenda schaffen – klassische Methoden der Manipulation, beliebte und oft genutzte Werkzeuge von Hetzern und Verschwörungstheoretikern.
 
Auf die Diakonie Michaelshoven brach ein Shitstorm von böswilligen Kommentaren und Beschimpfungen in sozialen Netzwerken herein, eine große Zahl von Hass- und Drohmails von „besorgten Bürgern“, sogar Morddrohungen gegen Mitarbeitende erreichten die Einrichtung. Einzelne Verfasser fühlten sich sogar, wie auf Facebook zu lesen war, in ihrer Meinung bestätigt, dass die Jugendämter gezielt Kinder aus „ungehorsamen“ Familien nehmen, um an ihnen Impfexperimente und pädophile Straftaten zu vollziehen.
 
Man mag den Kopf schütteln und das Gelesene als lächerlichen Unsinn abtun, dennoch bleibt ein ungutes Gefühl: Kann man Menschen, die den Glauben an und das Vertrauen in den Staat verloren haben, überhaupt noch erreichen? Sind diese MitbürgerInnen für unsere Gesellschaft dauerhaft verloren? Wie können der Zusammenhalt und der soziale Friede in unserem Land, trotz massiver Sperrfeuer aus verschiedensten Richtungen, wiederhergestellt und dauerhaft bewahrt werden?

Schwierige Fragen, denen sich Gesellschaft, Medien und Politik zukünftig verstärkt und mit Nachdruck stellen müssen.
 
Was bedeutet das für unsere Einrichtungen und die Fachkräfte?

Von entscheidender Bedeutung sind meiner Ansicht nach zwei Faktoren:

1. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Träger und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe muss neue Bedeutung und Aufwertung erhalten. Denn kontinuierliche Aufklärung, Transparenz und proaktive Kommunikation nach außen sind wesentliche Bestandteile, um gezielten Desinformationskampagnen vorzubeugen sowie auf Hasskommentare und Drohmails gezielt und zeitnah reagieren zu können. Hier wären entsprechende Konzepte und Notfallpläne zielführend.

2. Alle Mitarbeitenden brauchen eine klare, selbstbewusste Haltung und ein positives berufliches Selbstbild: Denn Hetzer und Verschwörungstheoretiker versuchen zumeist, ihr Gegenüber mit einer Flut unbelegter „Fakten“ unter Druck zu setzen, sie in eine Rechtfertigungshaltung zu manövrieren. Gerät man ins Wanken, so empfinden sie dies als Bestätigung ihrer Ansichten.

Hass und Hetze hat keinen Mehrwert. Hetzer und Verschwörungstheoretiker verachten unsere Gesellschaft. Sie wollen am liebsten alles brennen sehen. Wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe hingegen stehen auf der guten Seite. Wir leisten einen Mehrwert für die Gesellschaft, unser Schaffen hat höchste Sinnhaftigkeit. Wir isolieren und spalten nicht, wir vereinen, heilen und versöhnen.
 

In diesem Sinne: Lassen Sie sich nicht beirren, bleiben Sie couragiert!


Text: Andreas Schrötter / Vorschau-Foto: Pixabay