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06.11.2020 - Therapeutisches Reiten: Von der natürlichen Autorität von Antares und Aki


„In Kontakt kommen“ war das Ziel der Therapeutischen Reitgruppe der Ambulanten Erziehungshilfe (AEH), einem Kooperationsprojekt der AEH-Teams Mitte und Sendling in München.

Beim Umgang mit dem Pferd lernt jeder Mensch sich selbst besser kennen. Hier arbeitet Reittherapeutin Michaela Flaxl (rechts) mit Paula auf Antares. Foto: Helga Aicher/KJF
„Mmmh – ich hab den Geruch vermisst, hier fühl ich mich zu Hause.“ Leonie* nimmt einen tiefen Atemzug und macht sich mit dem Halfter in der Hand auf den Weg zum Warmblutwallach Antares, der sich ihr schon zur Begrüßung weit entgegenstreckt. Das große braune Pferd lässt sich genüsslich kraulen, aufhalftern und dann bereitwillig von Ida zum Putzplatz führen, wo die beiden von Teampartnerin Elif*, die mit Putz- und Sattelzeug gewappnet ist, bereits erwartet werden.

So startet eigentlich jeder Nachmittag der therapeutischen Reitgruppe am Eulenhof in Olching – und das ist genau richtig, finden alle: Nach einer ausgiebigen Begrüßungsrunde aller tierischer Hofbewohner, sind die Kinder den Tag über für die Versorgung ihres Therapiepferdes verantwortlich: das Fell wird geputzt, die Hufe ausgekratzt, das Tier auf Verletzungen oder Druckstellen untersucht, Decke und Gurt werden angelegt, und dazwischen dürfen ausgiebige Kuschel- und Massageeinheiten nicht fehlen. Ist alles erledigt, geht‘s ab in die Reithalle. Das Konzept der Gruppe basiert auf theoretischen Inputs rund ums Pferd, dem therapeutischen Schwerpunkt der „heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd“ und dem „persönlichen Allerlei“, das die Jugendlichen mitbringen – jeder mit seiner Persönlichkeit und der eigenen Geschichte.
Therapeutisches Reiten
Therapeutisches Reiten umfasst pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, rehabilitative und sozial-integrative Maßnahmen, die über das Medium Pferd umgesetzt werden. Zielgruppe sind Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mit körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklungsstörungen oder Behinderungen. Die Entwicklungsförderung steht dabei im Mittelpunkt; reiterliche Fähigkeiten sind dagegen eher nebensächlich. (aus Wikipedia)

Auch die Pausen tun gut: Paula (links) und Leonie beim Relaxen, im Vordergrund Pony Max. Foto: Helga Aicher

Nach dem Reiten ist Zeit für Extra-Schmuse-Einheiten: Leonie mit Tschingis. Foto: Michaela Flaxl/KJF
„In Kontakt kommen“ lautet das Motto: mit sich, dem Pferd und den anderen in meiner Umwelt. Vorwärts, seitwärts, rückwärts, liegend, kniend, stehend, gehend, trabend, balancierend, mit geschlossenen Augen, freihändig – alles ist möglich mit dem richtigen Partner an seiner Seite. In der Arbeit mit dem Pferd entwickeln die Teams gegenseitiges Vertrauen, das Gespür für das Gegenüber, die eigenen Grenzen und die der anderen, und schaffen es, über die eigene Komfortzone hinaus zu gehen.

Derweil beim zweiten Team: „Huch, ist der groß!“ rutscht es Paula* beim Anblick von Aki raus, das größte Pferd am Hof. Knapp fünfzehn Minuten später führt sie wie selbstverständlich diesen über sechshundert Kilo schweren Riesen zielstrebig, sicher und vorausschauend durch einen Parcours, während ihr Teampartner Samuel* sich mit geschlossenen Augen und weit ausgebreiteten Armen auf dessen Rücken ausbalanciert.
 
Wer hat das Sagen?
Michaela Flaxl: Halb Reittherapeutin, halb AEHlerin
Helga Aicher: All–in-One-Projektmanagerin, zuständig für Planung, Transport, Kulinarik und den Wohlfühlfaktor vor Ort

Das Herz der Gruppe:
4 Jugendliche aus den AEH Teams Sendling und Mitte
2 pferdestarke Kooperationspartner: Aki und Antares
14 vierbeinige wiehernde Statisten
eine einzig wahre Chefin am Hof: Glückskatze Lotti

 

Belastete Kinder und Jugendliche erfahren Nähe und Wertschätzung

Die Übungen werden eng angeleitet durch die AEH-Fachkraft und ausgebildete Reittherapeutin Michaela Flaxl. Sie bauen aufeinander auf, werden in ihrer Intensität und im Schwierigkeitsgrad gesteigert und den jeweiligen Grenzen und Ressourcen der Jugendlichen angepasst. Bei dieser Form von therapeutischer Arbeit zeigt sich immer wieder, wie wertvoll Pferde als vierbeinige Interaktionspartner sind. Sie sprechen mit allen Sinnen an, sind geduldig und neugierig. Zudem strahlen sie eine natürliche Autorität aus. Sie bewerten nicht nach dem Äußeren, der Sprache oder der Leistung. Gleichzeitig reagieren sie auf die kleinste Bewegung, geben direktes Feedback und spiegeln die oftmals auch unbewusste Gefühlswelt des Gegenübers. Pferde erfüllen das natürliche Grundbedürfnis nach lieben und geliebt werden – und all das in einer ungezwungenen und authentischen Umgebung.

Die teilnehmenden Jugendlichen kommen überwiegend aus sehr schwer belasteten familiären Verhältnissen und werden im Rahmen der Ambulanten Erziehungshilfe über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren intensiv betreut und begleitet. Bei der therapeutischen Reitgruppe erleben sie Nähe, Anerkennung, Wertschätzung, Respekt, Sorglosigkeit, eigene Kompetenz und ein friedliches Miteinander – und all das in einem Setting, dass sie sich selbst, zusammen mit ihren tierischen Komplizen, geschaffen haben.

Aus Sicht der AEH-Fachkräfte war die Gruppe ein voller Erfolg mit Wiederholungscharakter. Doch wie fällt das Feedback der TeilnehmerInnen aus? Die Rückmeldungen waren durchwegs positiv und wurden von Paula treffend zusammengefasst: „Das Reiten, die Pferde, der Hof, das Essen, die Atmosphäre und die Leute, die die Gruppe zu dem gemacht haben, was sie ist – mir hat einfach alles gefallen.“ Lediglich ein Wunsch blieb nach dem Abschluss noch offen: das Pferd auf dem Rücksitz des Autos mit nach Hause zu nehmen!

* Namen aus Datenschutzgründen geändert

Text: Helga Aicher und Michaela Flaxl, Ambulante Erziehungshilfe (AEH) Sendling und Mitte