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17.08.2021 - Jubiläum - 50 Jahre professionelle Hilfen für Menschen mit Behinderung


EVS-Einrichtungsleiterin Dr. Gertrud Hanslmeier-Prockl hat in den Annalen des EVS geblättert. Hier schildert sie den interessanten Weg von der Idee eines Mannes zur etablierten und unentbehrlichen Einrichtung.

Anton Karl prägte den Einrichtungsverbund über einen Zeitraum von 35 Jahren. Alle Fotos: EVS/KJF
 

Der EVS aus der Vogelperspektive in den 1950er Jahren.
Es ist nun 50 Jahre her, dass der Einrichtungsverbund Steinhöring, anfangs Betreuungszentrum (BZ) Steinhöring, gegründet wurde. Die KJF München erhielt damals das Angebot, in den Räumen eines aufgelassenen Kinderkrankenhauses eine soziale Einrichtung zu installieren. Damals gab es im Bereich der Angebote für Menschen mit Behinderung vor allem die sogenannten Anstalten: Einrichtungen zur Versorgung von Menschen in komplexen, in der Regel von Orden geführten Häusern. Es gab keine Werkstätten, aber erste Versuche, Schulen für Kinder mit Behinderung zu gründen. 

Der Sozialpädagoge Anton Karl war damals in der Gefährdetenhilfe der KJF tätig. Da er im Rahmen seines Studiums ein Praktikum im Bereich der Behindertenhilfe absolviert hatte, kam er auf die Idee, man könnte hier Arbeit und Wohnen für Menschen mit Behinderung schaffen. So erhielt er 1971 den Auftrag, seine Ideen in Steinhöring umzusetzen. Die Solanus-Schwestern - der Orden, der das Kinderkrankenhaus bis dahin betrieben hatte - blieben ebenfalls auf dem Campus und kümmerten sich um Kinder mit Behinderungen, die noch zur Zeit des Kinderkrankenhauses hier geboren und anschließend von den Eltern zur Versorgung an die Schwestern übergeben wurden. Die jetzige Förderstätte und das Wohnhaus II sind die einzigen noch stehenden Gebäude aus dieser Zeit. Anton Karl startete damals mit weniger als einer Handvoll MitarbeiterInnen und drei BewohnerInnen im September des Jahres 1971. 

EVS-Beschäftigte aus den Anfangsjahren.
Den Menschen auf Augenhöhe begegnen

Das Ziel, Menschen mit Behinderung Arbeit und ein sinnerfülltes Leben zu ermöglichen, stand im ersten Konzept des BZ Steinhöring. Bereits im Jahr 1972 wurde die Korbinianschule gegründet, eine Lehrkraft aus Ebersberg, Frau Böck, die erste Schulleitung in Steinhöring, fragte wegen Räumen an. Karl erkannte die Möglichkeit einer guten gemeinsamen Entwicklung mit seiner Vision, und so wurden die Räume in Steinhöring langsam verschiedenen Aufgaben zugeordnet. Als sozialpolitisch interessierter Mensch engagierte sich Karl auch bundesweit für die Arbeitsbedingungen für Menschen mit Behinderung. Er arbeitete auf Bundesebene mit an der Werkstättenverordnung, dem bis heute geltenden Regelwerk für Menschen mit Behinderung, und sicherte damit bis heute seine Vision, den Menschen mit Behinderung Arbeit zu ermöglichen. Bereits in den ersten Jahren kamen weitere für den EVS wichtige Mitstreiter dazu. Franz Wallner (1972), der leider mittlerweile verstorbene Jürgen Rossmann (1979) und Sebastian Gruber (1978). 

In Steinhöring ging man von Anfang an neue Wege. Die Verantwortlichen waren vor allem geprägt von der Idee der Normalisierung. Es sollten Orte der Begegnung geschaffen werden. Karl ließ alle Hecken und Zäune um das Gelände entfernen. Es sollte eine einladende Anlage werden, auf der BewohnerInnen, MitarbeiterInnen und auch BesucherInnen gerne verweilen. Auch die später errichteten Sportanlagen wurden für Externe geöffnet. Es gab Volkstanz und Faschingsfeiern mit den ansässigen Vereinen, und zunehmend entwickelte sich ein kleines regionales Kulturprogramm. Gemeinsames Feiern ist bis heute eine der liebsten Beschäftigungen der SteinhöringerInnen. 

Bereits wenige Jahre nach der Gründung wurde die erste Außenwohngruppe geschaffen. Viele Einrichtungen der Eingliederungshilfe starteten damit erst 20 Jahre später. Für Steinhöring war und ist es wichtig, den Menschen mit Unterstützungsbedarf auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen möglichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen. Auf der Veranstaltung zu "40 Jahre Außenwohnen" berichtete Rossmann beispielhaft davon, dass damals die BewohnerInnen immer wieder "durch das Fenster abgehauen" seien. Man beschloss, ihnen Schlüssel zu geben, damit sie gehen und kommen konnten, wann sie wollten - eine Entscheidung, die vor 50 Jahren sicher eher ungewöhnlich war. Aber die Haltung zur Innovation und zum Risiko, vor allem um den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und sie ernst zu nehmen, ist immer noch einer der Grundgedanken des heutigen Einrichtungsverbundes. 

Das erste Pressefoto von 1971.
 

Anton Karl bei seiner Rede anlässlich des 30-jährigen Jubiläums.
Erster integrativer Kindergarten gegründet

Die VertreterInnen des Betreuungszentrums Steinhöring machten es sich zur Aufgabe, Angebote für möglichst alle Menschen mit Behinderung zu schaffen, die im Landkreis Ebersberg lebten. Dies ist heute noch Teil der strategischen Planung des EVS. Auf Basis dieses Gedankens entwickelte sich ein Netzwerk von sehr differenzierten Angeboten für Menschen mit verschiedenen Unterstützungsbedarfen in den Landkreisen Ebersberg und Erding. Neben Wohneinrichtungen, Werkstätten (WfbM) und der Schule wurde mit dem Montessori-Kindergarten der erste integrative Kindergarten gegründet, als es hierfür noch keine offizielle Bezeichnung gab. Man eröffnete eine Tagesstätte und auch einen Kindergarten für seelisch behinderte Kinder, den Heilpädagogischen Kindergarten.

Auch eine Frühförderung zur Förderung von Kindern von null bis sechs Jahren wurde in Steinhöring gestartet. Hier erkannte man schnell, dass so ein Angebot einen niederschwelligen Zugang benötigte und verlagerte die Einrichtung in die Stadt Ebersberg. In den 80er Jahren begann der Bau der Werkstätten, der Korbinianschule und der Heilpädagogischen Tagesstätte. Als die St.-Josefs-Kongregation aus Ursberg auf die Steinhöringer zukam, ob sie nicht den nahegelegenen Fendsbacher Hof übernehmen wollten, erkannte Karl die Chance die bereits überfüllten Werkstätten zu entlasten und dort Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in der Landwirtschaft zu schaffen. Auch eine zweite Gärtnerei wurde eröffnet, denn die Steinhöringer Gärtnerei war ein beliebter Arbeitsplatz.

Ende der 1980er Jahre wurde die Förderstätte gegründet, eine tagesstrukturierende Einrichtung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Damit schaffte man ein Angebot für die erwachsen gewordenen AbsolventInnen der Korbinianschule, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie nicht in der WfbM arbeiten können. Zum Teil waren sie noch in der Zeit des Kinderkrankenhauses aufgenommen und anfänglich noch von den Ordensschwestern auf dem Gelände betreut worden. Heute umfasst die Förderstätte 74 Plätze.
 
Die "Steinhöringer Werkstätten" für Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen (WfbM) sind ein Verbund von Werkstätten des Einrichtungsverbunds Steinhöring mit den Standorten Eglharting, Fendsbach, Steinhöring (Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung) und Ebersberg (Werkstatt für Menschen mit seelischer Behinderung).
In den 90er Jahren wurde das Wohnhaus II auf dem Gelände in Steinhöring saniert und das Wohnhaus I neu gebaut. In Fendsbach entstand das Haus Benedikt. Das Qualitätsmanagement und das Fachkonzept für die Unterstützungsplanung wurden eingeführt. Das BZ gab sich eine Verfassung, die sogenannte Unternehmensverfassung. Neben den Zielen des BZ und seiner Einrichtungen wurden auch Grundsätze für leitende Mitarbeitende und für alle Mitarbeitende festgelegt. Damit wollten die "BZler" die gemeinsame Wertebasis schriftlich niederlegen, um sich auf diese gemeinsame Verantwortung festzulegen. 

Neue Werkstätte und Wohnhaus decken höheren Bedarf

In den 90er Jahren wurde deutlich, dass die Plätze in den Werkstätten und den Wohneinrichtungen trotz des neuen Standorts Fendsbach und der vielen bereits geschaffenen Außenwohngruppen an verschiedenen Orten im Landkreis Ebersberg nicht ausreichen würden, den Bedarf zu decken. Eine neue Werkstätte wurde geplant. Eltern schlossen sich zu einer Verwaltungsgesellschaft zusammen und beschlossen, in Kooperation mit der KJF ein Haus für Menschen mit Behinderung zu bauen. 2001 wurden die Ideen Realität. In Eglharting entstand eine Werkstatt für 120 Beschäftigte und ein Wohnhaus für 22 BewohnerInnen. Gleichzeitig beschloss die KJF, sich neu zu strukturieren, und die "Erdinger Einrichtungen" wurden organisatorisch an den EVS angeschlossen; diese sind die St.-Nikolaus-Schule und die Heilpädagogische Tagesstätte in Erding sowie die Frühförderstellen Erding und Dorfen. Das BZ Steinhöring wurde umbenannt in den Einrichtungsverbund Betreuungszentrum Steinhöring (EVBZ). Zu diesem Zeitpunkt war die Einrichtung auf 650 Mitarbeitende angewachsen. Nach 35 Dienstjahren verabschiedete sich Anton Karl im Jahr 2005 in den Ruhestand. 
 

Das Gelände des EVS in Steinhöring im Jahr 1938.
 

Das Leitungsteam Ende der 1970er Jahre. Von rechts: Sebastian Gruber, Jürgen Rossmann und Anton Karl.
Begegnungsstätten "Café Wunderbar" und "Speisekammer"

Dr. Frank Frese übernahm für vier Jahre die Geschicke des EVBZ. In dieser Zeit wurde das Piusheim der KJF geschlossen, und der EVBZ übernahm die Angebote für Menschen mit psychischer Erkrankung. Räume in der Stadt Ebersberg wurden angemietet, um Arbeit und Wohnen für diesen Personenkreis zu schaffen. Als Ort der Begegnung wurde das "Café Wunderbar" auf dem Gelände in Steinhöring errichtet. 

Seit 2010 wird der Einrichtungsverbund nun von mir geleitet. Die handlungsleitende Idee, bedarfsgerechte Plätze für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, blieb fest verankert. In den letzten zehn Jahren wurde auf dem Fendsbacher Hof eine neue Förderstätte errichtet. Zur Schaffung von inklusiven Angeboten für Kinder im Vorschulalter wurde im neu gebauten Kinderhaus St. Gallus, dessen Betriebsträgerschaft der Einrichtungsverbund bereits 2001 von der Erzdiözese übernommen hatte, ein inklusiver Hort geschaffen. Am Standort Ebersberg wurde neben der Frühförderstelle ein Kinderhaus eröffnet, und in der Gemeinde Taufkirchen an der Vils schaffte der EVS ein bayernweit einzigartiges inklusives Kinderhaus für Kinder mit seelischer Behinderung integriert in einen Regelkindergarten. Eine neue Frühförderstelle in Markt Schwaben wurde gegründet, um dem Bedarf der Kinder und Familien in der Zuzugsregion entsprechen zu können.

In der Stadt Ebersberg eröffnete der EVS ein Büro für ambulant begleitetes Wohnen, ein Dienst, der mittlerweile über 20 Menschen begleitet, die in ihrer eigenen Wohnung leben. Gemeinsam mit einem privaten Investor realisierte der EVS ein Wohnhaus für 24 Menschen mit höherem Hilfebedarf inmitten der Stadt Ebersberg. Mit dem Haus Moossteffl im gleichnamigen Stadtteil und mit den Ebersberger Werkstätten inklusive dem Biorestaurant "Speisekammer" wurden Wohnplätze und über 60 Arbeitsplätze für Menschen mit seelischen Behinderungen geschaffen. Auch der Name des Verbundes hat sich geändert. Aus dem Einrichtungsverbund Betreuungszentrum Steinhöring (EVBZ) wurde der Einrichtungsverbund Steinhöring (EVS), da der Begriff "Betreuung" in der Eingliederungshilfe in Verruf geraten ist. Er steht heute nicht mehr für eine Beziehung auf Augenhöhe, sondern für ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Mitarbeitenden und Menschen mit Behinderung. Heute beschäftigt der EVS 970 MitarbeiterInnen und bietet über 2000 Plätze für Menschen mit Behinderung. Die Angebote für diese Menschen werden bereichert durch den Einsatz von über 100 ehrenamtlichen HelferInnen. 

Im Fokus: ein selbstbestimmtes Leben

An der Geschichte des EVS wird deutlich, dass die Rechte und die Chancen auf Förderung für Menschen mit Behinderung immer weiter gestärkt wurden. Werkstätten, Wohnformen in kleinen Einheiten, selbstständiges Wohnen, inklusive Begleitung von Kindern und Jugendlichen beweisen dies. In unseren insgesamt acht Partnerkassen in Regelschulen lernen SchülerInnen mit und ohne Behinderung ganz selbstverständlich gemeinsam. Heute steht die Inklusion als Leitmotiv über allen Diensten im Bereich der Eingliederungshilfe. Für den EVS handlungsleitend ist die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Hier berühren sich die Zeiten heute mit den Anfängen des BZ: Es geht darum, welche Ideen die Menschen selbst von ihrem Leben haben, was sie sich selbst auch in Bezug zum Beispiel auf ihre Arbeitsstelle vorstellen. Dies heißt nicht um jeden Preis Inklusion, sondern die selbstbestimmte Wahl zwischen unterschiedlichen Angeboten und Möglichkeiten. Unser Auftrag bleibt dabei: die Bildung und Entwicklung der Menschen hin zu einem möglichst selbstbestimmten Leben. 

Der Einrichtungsverbund Steinhöring besteht aus kreativen, innovativen und selbstbewussten Mitarbeitenden, die Menschen mit Behinderung als selbstbestimmt begreifen und sie dabei unterstützen, ihren Lebensentwurf zu entwickeln und zu verwirklichen. Diese starke Dienstgemeinschaft hat die Entwicklung des EVS möglich gemacht. Die Pandemie der letzten 14 Monate hat diese Prinzipien auf den Kopf gestellt. Alle Beteiligten des Netzwerkes haben aber gezeigt, dass sie auch solche Herausforderungen meistern. 

Die Vorhaben für die nächsten zehn Jahre sind riesig. Um die Bedarfe aller anfragenden Menschen bedienen zu können, müssen neue Angebote und Einrichtungen entwickelt werden, zeitgleich gibt es enorme Sanierungsvorhaben. Die Digitalisierung im Bereich der Verwaltungsprozesse und auch der Leistungserbringung sowie die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und der inklusiven Lösung werden die Arbeit in den nächsten Jahren sicherlich prägen. 

50 Jahre sind ein guter Zeitpunkt, um inne zu halten und für das Erreichte zu danken. Es ist auch ein guter Zeitpunkt, um gemeinsam zu feiern. In abgespeckter Form wird das auch stattfinden, ein Fest für die BewohnerInnen, Schulfeste und verschiedene Feste für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind geplant - aber richtig gefeiert wird 2022! 

Text: Dr. Gertrud Hanslmeier-Prockl, Gesamtleitung Einrichtungsverbund Steinhöring