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28.02.2022 - Halt im Leben finden - Klettertraining mit seelischen belasteten Kindern


Kinder und Jugendliche der Heilpädagogischen Tagesgruppen und der Stationären Gruppen unseres Clemens-Maria-Kinderheims haben seit Kurzem die Möglichkeit, in Kletterkursen Selbstvertrauen zu erlangen und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Das Angebot aus dem Spektrum der Erlebnispädagogik erfreut sich großer Beliebtheit.

Gesichert durch Kletterbetreuer Christoph Dollhopf erklimmt Roberto die fünf Meter hohe Kletterwand. Alle Fotos: Gabriele Heigl/KJF
Die graue Wand ist fünf Meter hoch. Man muss den Kopf in den Nacken legen, um das obere Ende in Augenschein zu nehmen. Viele bunte, unterschiedlich geformte Klettergriffe sind über die Wand verteilt. Von oben baumeln mehrere Seile an voluminösen Karabinerhaken nach unten. Sogar einen kleinen Überhang gibt es. Roberto und Daniel, beide zehn Jahre alt, tragen schon einen Klettergurt um die Hüfte und spezielle Kletterschuhe. Die Vorfreude ist ihnen deutlich anzusehen. Christoph Dollhopf vom pädagogischen Fachdienst des Clemens-Maria-Kinderheims in Putzbrunn ist heute als Kletterpädagoge im Einsatz. Unter seiner Anleitung dürfen die Jungs die Wand erklettern.

Eine großzügige Spende machte die Montage der Wand in der Turnhalle der Clemens-Maria-Hofbauer-Schule auf dem Gelände des Clemens-Maria-Kinderheims möglich. Seit gut einem Jahr können sich die Kinder und Jugendlichen der Heilpädagogischen Tagesgruppen und der Stationären Gruppen der Einrichtung beim Klettern erproben.

Bevor es für Roberto in die Wand geht, wird der Sitz des Tragegurtes kontrolliert. Mithilfe und unter Anleitung des Kletterbetreuers befestigt er das Seil mit einem Achterknoten an einem großen Karabinerhaken an seinem Klettergurt. Warum dieser spezielle Knoten? "Weil der nicht aufgehen kann", erklärt Christoph Dollhopf. Mehrmals wird alles kontrolliert, auch der Gurt und der Sitz des Seils am Betreuer, der die Sicherung übernimmt. Aber dann kann es losgehen.

Ganz schön tricky: Der Achterknoten. Gemeinsam gelingt er.
Vertrauen zu sich selbst und anderen aufbauen

"Überlege dir, wie du anfangen möchtest", erinnert Dollhopf den Jungen, der bereits eine Hand an einem Klettergriff hat. Roberto hält kurz inne und steigt in die Wand. Über das Seil ist er mit seinem Betreuer verbunden. "Schau, was du mit deinen Füßen machst. Ich halte dich." Ruhig aber zügig steigt der Junge weiter nach oben, greift mal links mal rechts beherzt in die Wand. Der "Gipfel" ist in weniger als einer Minute erreicht. Dabei klettert Roberto erst seit Anfang des Jahres, heute ist seine fünfte Kletterstunde. Christoph Dollhopf: "Die Kinder machen von Anfang an intuitiv alles richtig. Sie gewinnen schnell Stück für Stück mehr Sicherheit. Es macht großen Spaß, mit ihnen zu arbeiten."

Das Klettertraining für belastete Kinder und Jugendliche, in diesem Fall Kinder mit seelischer Behinderung, gehört zur Erlebnispädagogik (siehe Textblock unten). Schlagworte in diesem Zusammenhang sind: Vertrauen aufbauen in sich selbst und in andere, Selbstwirksamkeit erfahren, Erfolgserlebnisse haben, sich selbst besser wahrnehmen, Aufmerksamkeitsevaluation und -regulation. "Die Kinder lernen, sich besser zu konzentrieren; das stellen wir vor allem bei unseren ADHS-Kindern fest.", so Dollhopf.

Christoph Dollhopf klettert privat seit zwölf Jahren, hat auch den Trainerschein schon seit Längerem. Beim Deutschen Alpenverein (DAV) und den Naturfreunden hat er Eltern-Kind-Kletterkurse gegeben. Zwei seiner Kolleginnen am Clemens-Maria-Kinderheim haben den mindestens erforderlichen sogenannten Toprope-Schein in Fortbildungskursen beim DAV erworben. So können sie sich bei den Kursen, die für die Kinder einmal in der Woche angeboten werden, abwechseln. Ein/e KletterbetreuerIn arbeitet mit jeweils zwei Kindern.

Gutes Team: Der Kletterbetreuer Christoph Dollhopf und der junge Kletterer Roberto. Die beiden sind ein gutes Team an der Wand.
 
Klettern als Element der Erlebnispädagogik

Der Begriff "Moderne Erlebnispädagogik" wurde Ende der 1970er-Jahre von Jörg W. Ziegenspeck an der Leuphana-Universität Lüneburg geprägt. Es gelang ihm, in fünf Jahrzehnten die Erlebnispädagogik zur allgemein anerkannten Teildisziplin der Pädagogik zu entwickeln und zu fundieren. Die Erlebnispädagogik ist ein Themengebiet der Pädagogik. Sie befasst sich mit Gruppenerfahrungen meist in der Natur, um die Persönlichkeit und soziale Kompetenzen zu entwickeln. Erlebnispädagogik gilt heute als integrativer Bestandteil ganzheitlicher Erziehungs- und Bildungskonzepte. Ursprünglich in der Reformpädagogik verwurzelt, gewinnt sie in jüngster Zeit wieder an Bedeutung, da Schlüsselqualifikationen wie soziale Kompetenz, Wagnisbereitschaft und Persönlichkeit eine zunehmende Rolle in der Gesellschaft spielen.

Klettern mit Kindern und Jugendlichen
Den Körper an Bewegungsmuster gewöhnen und dabei die eigenen Grenzen überwinden – das sind zwei Gründe dafür, dass Klettern ein wichtiges Element in der Erlebnispädagogik darstellt. Nicht nur alle Muskeln von Kopf bis Fuß werden trainiert, sondern es werden zugleich die eigenen Grenzen wahrgenommen und erfolgreich überwunden. Nicht nur das Selbstbewusstsein des Einzelnen, sondern auch der Teamgeist aller Beteiligten wird gestärkt. Außerdem wichtig: Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen.

Oben angekommen: Roberto genießt die ungewohnte Perspektive und das schöne Gefühl, gehalten zu werden.
Behutsam Ängste überwinden

Oben angekommen lässt Roberto nach kurzer Rückmeldung vom Betreuer die Griffe los und lässt sich in fünf Metern Höhe entspannt ins Seil hängen. Er vertraut dem Trainer und genießt die Aussicht aus den Oberlichten der Turnhalle. Und dann ist nochmal besonderer Spaß angesagt. Nach unten wird nämlich nicht geklettert. Der Betreuer seilt den kleinen Kletterer einfach ab. Das ist offensichtlich ein schönes Gefühl, denn trotz Mundschutz kann man das Strahlen auf Robertos Gesicht erkennen. "Auch wenn es für manche Kinder am Anfang eine große Hürde ist, ihre Angst zu überwinden, gelingt es ihnen nach kurzer Zeit doch", meint Christoph Dollhopf. "Man muss den Kindern eine komplett sichere Umgebung vermitteln, die Redundanz der Sicherung und die Kontrolle des Materials erklären." Roberto ergänzt: "Ein Seil kann zwei Tonnen tragen." 

Natürlich werden die Kinder und Jugendlichen nicht unter Druck gesetzt; sie entscheiden freiwillig über ihre Grenzen. Behutsam werden sie an neue Bewegungen herangeführt und beim Bewältigen der Tour unterstützt und ermutigt. Das Wichtigste bei den Kletterkursen ist die pädagogische Beziehung, also das Vertrauen in den Betreuer oder die Betreuerin. Christoph Dollhopf strahlt Ruhe und Kompetenz aus. Darüber hinaus macht eine Fachfirma halbjährlich beziehungsweise einmal im Jahr einen sicherheitsrelevanten Check der Wand und des Materials, also der Seile, Karabiner und Gurte, und erstellt ein alpines Gutachten. 

Manche der Kinder würden aber auch blind vertrauen, was nicht gut sei, so Dollhopf. Auch hier kann das Klettern helfen. Eine Übung besteht nämlich darin, erfahrbar zu machen, was es heißt zu fallen. Danach würden die Kinder eher vorsichtiger mit der Höhe umgehen als Nicht-Kletterkinder, sich also nicht überschätzen. Beeindruckend sei es für ihn zudem zu sehen, wie die Kletterkinder im Gruppenkontext agieren, sie sich also beim Klettern gegenseitig unterstützen und sich Tipps geben.

Text: Gabriele Heigl, KJF-Pressesprecherin