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26.06.2023 - Erfolgsgeschichten: Eine fünfköpfige Familie wohnt endlich menschenwürdig


Von Miriam Falkenberg, Sozialpädagogin bei den Ambulanten Erziehungshilfen von SBW-Flexible Hilfen

Mit diesem Bericht möchte ich ein Licht darauf werfen, was es heißt, auf der Schattenseite des Wohnens zu leben. Der Fall dieser senegalesischen Familie stellt alles in den Schatten, was ich bislang an Wohnverhältnissen gesehen habe. Die Geschichte hat ein Happy End. Doch muss man sich bewusst sein, dass er eine fast wundersame Ausnahme ist.

In München auf Wohnungssuche zu gehen erfordert oft einen langen Atem. Für Familien mit Migrationshintergrund ist ein Erfolg bei der Suche schier unmöglich. Foto: Pixabay
In 15 Jahren Arbeit für die Ambulanten Erziehungshilfen (AEH) habe ich schon Vieles gesehen, vor allem, was das Thema Wohnen angeht. Immer wieder und immer mehr haben wir es mit Familien zu tun, die in äußerst prekären Wohn- und damit auch Lebensverhältnissen leben. Dieses Thema prägt auch unsere Arbeit in der AEH - ob es nun zu unserem Auftrag gehört oder nicht. Es ist oft DAS zentrale Problem der Familien.
 
Eine Wohnung in München zu finden, ist inzwischen selbst für Gutverdiener ein mühsames, zuweilen schier unmögliches Unterfangen geworden. Unsere Klientel jedoch steht ganz unten in der Hierarchie im Verteilungskampf.
 
Ich habe die Familie Sinaga (alle Namen geändert, die Redaktion) im September 2021 kennengelernt. Die Eltern sind beide im Senegal aufgewachsen. Sie wurden aber erst in Italien ein Paar. Dort arbeiteten sie in einem Restaurant, Fallou Sinaga als Koch, Youma Sinaga als Bedienung. Es sind feine, leise und höfliche Menschen. Sie bekamen zusammen drei Kinder. Die beiden Söhne, Ali und Asif, sind beide autistisch, der ältere hat eine geistige Behinderung. Die jüngste Tochter wirkte zunächst unauffällig.
 
Die Eltern waren mit der Förderung ihrer Söhne in Italien nicht zufrieden und entschieden, ihr Glück in München zu versuchen. Hier lebte auch bereits Verwandtschaft. Der Vater von Youma Sinaga vermittelte ihnen eine Ein-Raum-Wohnung in einem Mietshaus in Schwabing. 40 Quadratmeter, ein einziges Zimmer, eine kleine, verkommene Küche und ein Bad. Der Plan war, sich bald zu vergrößern. "Es geht nur um drei bis vier Wochen", sagte der Vater. Aus den vier Wochen wurden viereinhalb Jahre.
 
Unerträgliche Gegebenheiten
 
Der Mietvertrag, den die Eltern bekamen, sah so aus:
  • Eine Din-A4-Seite als kaum leserliche Kopie voller Kaffeeflecken und ohne jeden Paragraphen.
  • Die Familie zahlte für das kleine Appartement 1400 Euro warm. Die Familie zahlte die Miete in BAR. Wenn das Geld nicht gleich da war, zu dem Zeitpunkt, als es "eingetrieben" wurde (der Zeitpunkt variierte immer etwas), gab es Druck und Drohungen vom Vermieter.
  • Zudem gab es laufend Schäden in der Wohnung. So trat etwa öfter Wasser aus den Wänden des Badezimmers. Die Schäden wurden nicht oder erst nach wochenlangem Monieren behoben.
  • Das warme Wasser war einige Wochen untertags abgedreht.
  • Das Schloss der Wohnungstür war defekt, sie ließ sich nicht richtig abschließen.
  • Post kam häufig nicht an, da die Namensschilder kaum leserlich waren.
  • Die Klingeln unten an der Haustür des Hauses funktionierten nicht.
  • Es gab häufige Polizeieinsätze, da Tagelöhner im Haus wohnten, die oft in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt waren. Die Mutter erzählte, wie ihre Kinder und sie immer wieder große Angst hatten, vor allem in der Nacht.

Eine Schlafcouch mit Tisch, ein Doppelbett, einen Fernseher, einen Schrank, das ist alles.

Mein Eindruck beim ersten Hausbesuch ist: "Wow, wie kann eine fünfköpfige Familie ihr einziges Zimmer so picobello aufgeräumt halten!?" Ich sehe eine Schlafcouch mit Tisch, ein Doppelbett, einen Fernseher, einen Schrank, das ist alles. Ich spähe instinktiv nach einem weiteren Raum, aber da gibt es keinen. Auf dem einzigen freien halben Quadratmeter ohne Möbel liegt der Gebetsteppich des Vaters, den er so oft wie möglich nutzt.
 
Die Eltern berichten: Der Platz reicht zum Schlafen nicht. Der Vater arbeitet in Schicht, auch bis in die Nacht, und quetscht sich dann dort hinzu, wo es geht. Ali leidet neben Mutismus zudem unter Insomnie, einer chronischen Schlafstörung, er schläft sehr spät ein, gibt im Schlaf Laute von sich, steht oft mitten in der Nacht auf. Oft weint er stundenlang. Den Eltern und Kindern sieht man die Erschöpfung durch diesen ständigen Schlafmangel an. Dennoch gehen sie sehr liebevoll und geduldig mit ihren Kindern um. Es kann sich niemand abgrenzen, es gibt keine Privatsphäre. Wenn Ali von der Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) kommt, wirft er sich für den Rest des Tages eine Decke über den Kopf, um für sich allein zu sein.
 
Im Laufe der Wochen wird klar: Die Familie musste sofort nach Einzug einen Antrag beim Wohnungsamt auf eine größere Wohnung stellen. Auch die Maschinerie der kinderpsychiatrischen Abklärungen für die Söhne setzt sich langsam in Gang. Zwei Jahre müssen die Söhne auf HPT-Plätze warten. Es werden Gutachten erstellt, die attestieren, dass die Wohnsituation die Symptomatik der Jungen verstärkt. Mein Auftrag vom Jugendamt ist es unter anderem, die Familie bei der Wohnungssuche zu unterstützen. Nur wie?

Arbeitet seit 15 Jahren bei den Ambulanten Erziehungshilfen: Sozialpädagogin Miriam Falkenberg. Foto: Gabriele Heigl/KJF
 
Keine einzige Einladung zur Wohnungsbesichtigung
 
Sie machen alles richtig, bewerben sich beinahe täglich auf Wohnungen. Allein, sie haben es mit 500 bis 800 MitbewerberInnen pro Wohnung zu tun. Und das, obwohl sie durch die Gutachten ein hohes Ranking und die maximale Punktzahl erreichen, die man für besonders dringenden Wohnnotlagen bekommt. Es hilft alles nichts: Die Sinagas bekommen keine einzige Einladung zu einer Wohnungsbesichtigung. Das wird bis zum Umzug so bleiben.
 
Was also tun? Die erste Hürde ist es, eine leiblich-wahrhaftige Ansprechperson beim Wohnungsamt aufzutun. Man hat es nämlich bei "Soziales Wohnen online" (SOWON) mit einer digitalen Plattform des Wohnungsamtes zu tun. Normalerweise bekommt man nie jemanden zu Gesicht. In München suchen Tausende Menschen eine Wohnung. Die Plattform verhindert eine weitere Überlastung der Mitarbeitenden des Wohnungsamtes, aber entmenschlicht auch die Hilfe.
Schließlich bekomme ich "unter der Hand" von Kollegen die Telefonnummer der Leiterin des Wohnungsamtes, die auch für Härtefälle zuständig ist. Ich berichte ihr von der menschlichen Käfighaltung der Familie. Sie sichert mir zu, sich über den kleinen Dienstweg bei der GEWOFAG, einer der großen Wohnungsbaugesellschaften, für die Familie einzusetzen. Wir sind alle hoffnungsfroh.
 
Aber die Sache verschleppt sich. Wochen vergehen. Ich hake immer wieder nach, bekomme widersprüchliche Aussagen. Schließlich darf sich die Familie eine Vier-Zimmer-Wohnung ansehen, die sie auch ungesehen sofort nehmen würde. Diese wird dann aber doch zurückgezogen, da sie zu klein für fünf Personen sei: Vorschrift der GEWOFAG sei es, dass fünf Personen fünf Zimmer bekommen sollen. Fünf-Zimmer-Wohnungen seien aber erst im Bau und nicht vor Herbst bezugsfertig. Welch ein Hohn, der Familie eine Vier-Zimmer-Wohnung abzuschlagen, die über vier Jahre in einem einzigen Zimmer haust!
 
Das neue Schuljahr beginnt und die jüngste Tochter wird in Schwabing eingeschult. Man traut den avisierten Umzugsdaten nicht. September sicher? Nein, doch Oktober. Schließlich wird es November, bis die Familie in eine geräumige, niegelnagelneue Fünf-Zimmer-Wohnung im Prinz-Eugen-Park ziehen darf. Ein viereinhalbjähriger Nervenkrieg für die Familie und 15 Monate intensives Zuarbeiten durch die AEH liegen zurück.
 

Welch ein Hohn, der Familie eine Vier-Zimmer-Wohnung abzuschlagen, die über vier Jahre in einem einzigen Zimmer haust!

Hier läuft es gut!
Die Reihe "Erfolgsgeschichten" befasst sich mit dem Arbeitsalltag in unserer Einrichtung SBW-Flexible Hilfen. Im Fokus stehen sollen dabei nicht die Dinge, bei denen es hakt, oder die Probleme, die noch zu lösen sind, sondern die positiven Entwicklungsschritte, die erreichten Zwischenziele, die großen und kleinen Erfolge. Im Arbeitsalltag übersieht man diese nämlich nur allzu leicht. Dabei können KlientInnen wie BetreuerInnen daraus Kraft für die noch anstehenden Herausforderungen schöpfen.

Und endlich der glückliche Neubeginn
 
Das Glück der menschenwürdigen, sogar großzügigen Wohnung, ist für die Familie beinahe zu groß, um es fassen zu können. Am Einzugstag probieren die Kinder als erstes das Minitrampolin aus, dass wir günstig erwerben konnten und ihnen zum Einzug schenken. Die Tochter jauchzt und jubelt. Sie hat zum ersten Mal ein eigenes Mädchenzimmer. Erst langsam kommt die Familie an und endlich zur Ruhe.
 
Und noch einmal später können verstärkt auch die pädagogischen Themen und die zahlreichen Belange der Kinder besprochen und bearbeitet werden. So wird bei der Tochter deutlich, dass auch sie einen Förderschulbedarf hat. Es gibt Grund zur Annahme, dass die unsäglichen Wohnumstände ihre Entwicklung massiv beeinträchtigt und ausgebremst haben.
 
Diese Familie kann aufatmen und neu beginnen. Die Erziehung von drei Kindern mit speziellen Bedarfen bleibt ja herausfordernd genug. Aber sie können endlich Wurzeln schlagen in einem Viertel, in München, in Deutschland. Leider muss ich mich durch den Wechsel in ein anderes Quartier bald von ihnen verabschieden. Ich habe größten Respekt vor dem, was diese Familie aus- und durchgehalten hat, ohne sich als Familie zu verlieren.
 
Eigentlich hatte ich gehofft, bei der nächsten Familie, die ich nach den Sinagas übernahm, vom Wohnungsthema verschont zu werden. Doch, oh je:  Es ist eine alleinerziehende Mutter mit sechs Kindern, die in drei Zimmern einer Gemeinschaftsunterkunft haust. Und als ich mir den Zustand der Zimmer anschaue, denke ich: "So etwas habe ich noch nie gesehen." Und so beginnt die nächste Geschichte… Ob ich dort noch ein Happy End begleiten werde, ist bei einer Familie im Asylverfahren nach acht Jahren allerdings fraglich.
 
So bleibt in mir der fromme, aber brennende Wunsch, dass sich die Familien-Sozial- und Wohnungspolitik in unserem Land so verändert, dass kein Kind mehr jahrelang in miserablen Wohnungen/Zimmern ohne Raum zur Entfaltung aufwachsen muss.
 
Text: Miriam Falkenberg