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22.08.2022 - "Eltern, die um eine Unterbringung des Kindes bitten, halte ich für sehr verantwortlich"


Seit über 20 Jahren arbeitet Monika Boukari im Salberghaus und hilft Kindern und ihren Eltern in schwierigen Lebenslagen. Heute leitet sie die Bereiche Inobhutnahme und Bereitschaftspflege und wird oft mit sehr schwierigen Situationen konfrontiert. Wie sie damit umgeht, was sich in den letzten Jahren verbessert hat und welche Geschichte ihr besonders im Gedächtnis geblieben ist, erzählt sie im Interview mit Christina Beischl. 
Monika Boukari (links), Leiterin Inobhutnahme und Bereitschaftspflege im Salberghaus, hier im Gespräch mit einer Bereitschaftspflegerin. Foto: Salberghaus/KJF
 
Was hat man sich unter einer Inobhutnahme vorzustellen?

Monika Boukari: Inobhutnahme ist erstmal ein juristischer Vorgang. Das heißt ein Kind ist in einer so gefährlichen Situation, dass keine andere Maßnahme genügt, um die Gefahr abzuwehren. In der Praxis heißt das, ein Kind wird aus der Familie herausgenommen. Meist weiß das Jugendamt schon länger Bescheid. 

Was steht für Sie im Vordergrund beim Prozess der Inobhutnahme? 

Eine Inobhutnahme muss immer so durchgeführt werden, dass sie für das Kind so schonend wie möglich passiert. Es ist ein potenziell dramatisches Erlebnis.
Was kann man tun, um es dem Kind einfacher zu machen?

Wichtig ist es, so viele Informationen wie möglich zu sammeln und ein Bild von dem Kind und von der Situation zu bekommen. Am schwierigsten sind Inobhutnahmen mit großem Polizeieinsatz. Am besten laufen Inobhutnahmen, die mit dem Einverständnis der Mutter seltener des Vaters geschehen. Ich arbeite seit 20 Jahren in der Inobhutnahme, aber mich erstaunt es immer wieder, wie häufig es gelingen kann, im Sinne des Kindes zu handeln. Und wie viele Eltern das Beste für ihre Kinder wollen, obwohl es ja erstmal eine Zwangsmaßnahme ist. Es gibt auch Eltern, die um eine Unterbringung des Kindes bitten. Ich halte das für sehr verantwortlich. Meist können die Kinder etwas mitnehmen, zum Beispiel ein Tuch, das nach der Mutter riecht, oder ein Kuscheltier, sodass nicht alles neu und unvertraut ist. Das ist die größte Herausforderung für sie: neue Menschen, neue Umgebung, andere Kinder. Sehr hilfreich ist es auch, wenn wir vom Lieblingsessen erfahren oder welche Lebensmittel das Kind nicht mag.

Wie lange dauert eine Inobhutnahme? 

Bei sehr kleinen Kindern kann es vielleicht eine halbe Stunde dauern. Es kann sich aber auch über Tage, manchmal sogar Wochen, hinziehen. Das Jugendamt wird vorab schon angefragt, bei Familien, wo Probleme vorhanden sind. In der Regel sind dann bereits ambulante Maßnahmen vorhanden, und es zeichnet sich ab, dass es kritisch werden könnte. Da kann es dann schon mal 23 Stunden dauern. Es werden auch Kinder aus Krippen und Kindergärten zu uns gebracht. Also es kann von einer halben Stunde bis zu 34 Stunden dauern, und manchmal auch mehrere Monate. Manchmal werden Kinder auch angekündigt und dann wieder abgesagt, weil sich die Sachlage wieder beruhigt hat, und dann taucht der gleiche Fall Wochen oder Monate später wieder auf.

Wie geht dieser Prozess weiter?

Manchmal muss ein Kind nur in Obhut genommen werden, weil die Mutter entbindet und niemand zur Verfügung steht, der die anderen Kinder betreuen kann. Meist haben wir es aber mit Familiensituationen zu tun, bei denen auch andere Problematiken vorhanden sind. Es gibt drei mögliche Perspektiven. Erstens: Die Rückführung. Ein Kind kann wieder zurück, weil die Aspekte, die zur Aufnahme geführt haben, bearbeitet werden können. Zweitens: Eine stationäre Unterbringung. Und drittens: Die Unterbringung in einer Pflegefamilie. Eine Perspektive für die Rückkehr muss aber immer vorhanden sein, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Dies muss im Grunde bis zur Volljährigkeit immer wieder geprüft werden. Wir sind im Grunde die Einrichtung, die für die Unterbringung des Kindes zuständig ist. Wir werden zwar in die Perspektiventwicklung stark mit einbezogen, aber wir entscheiden letztendlich nicht darüber, ob ein Kind zurückgeführt wird oder nicht - auch nicht immer das Jugendamt. Manchmal legen Familien vor Gericht Einspruch gegen die Inobhutnahme ein. Dann haben wir das auch nicht so selten, dass Kinder in dieser Situation zurückgeführt werden, obwohl wir das Gegenteil empfehlen.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern? 

Eine gute Zusammenarbeit ist sehr wichtig. Die Eltern müssen wissen: Ich kann mein Kind bald wiedersehen. Man muss abwägen, weil die Kinder erstmal Ruhe brauchen, um anzukommen. Der erste Kontakt nach der Inobhutnahme sollte aber nach Möglichkeit innerhalb der nächsten zwei bis drei Tage stattfinden. Es gibt viele Eltern, die gerne und viel mit uns sprechen, und denen es gut gelingt, in die Reflexion zu kommen, sich die Situation anzuschauen. Es gibt aber auch immer wieder Eltern, die komplett abtauchen, und von denen wir nie wieder etwas hören. Manchmal muss erst eine Zeit vergehen und dann melden sie sich wieder. Dass die Eltern ihr Kind sehen dürfen ist bis auf sehr wenige Ausnahmen möglich, etwa wenn eine schwere Misshandlung oder sexuelle Gewalt stattgefunden hat. Wir sind häufig das Scharnier zwischen Jugendamt und Eltern. Es gibt viele Fälle, in denen das Jugendamt der 'Feind' ist, weil es das Kind in Obhut genommen hat. Wir sind dann die 'Guten', weil wir uns um das Kind kümmern. Es ist wichtig, gute Beziehungen zu den Eltern aufzubauen, aber auch die Dinge zu benennen, die kritisch zu sehen sind.
Gibt es Geschichten, an die Sie sich gern zurückerinnern?

Die schönste Geschichte, die mir dazu einfällt, war die einer jungen, psychisch kranken Frau. Sie hat ganz unvorbereitet einen kleinen Sohn bekommen. Wir haben das Neugeborene in Obhut nehmen müssen, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage war, den Buben zu versorgen. Am Tag, als die Bereitschaftspflege kam, hatten wir auch die Polizei vor Ort. Eine ganz schwierige Situation. Es ist dann aber so gut gelungen, Vertrauen zur Mutter aufzubauen, dass sie das Baby der Bereitschaftspflege selbst in die Arme gelegt hat. Ich sehe das heute noch vor mir. Es war wirklich ein schöner Moment. Irgendwann wurde auch klar, dass das Kind in eine Pflegefamilie gehen wird. Er kam dann 2012 in eine wunderbare Pflegefamilie und geht nun seinen Weg. 
Welche Veränderungen in Ihrem Arbeitsumfeld haben Sie über die Jahre beobachtet?

In den Wohngruppen hat sich der Stellenschlüssel und die Bezahlung sehr verändert. In jeder Gruppe wird angestrebt, immer eine dritte Kraft mit zu installieren. Da haben sich die Arbeitsbedingungen in den Notaufnahmegruppen innerhalb der letzten 20 Jahren deutlich verbessert. In der Bereitschaftspflege werden die Bedürfnisse der Pflegekräfte heute besser und deutlicher gesehen. Wir müssen jetzt nicht mehr darum kämpfen, dass die Pflegekräfte nach einer Vermittlung in eine Dauerpflegefamilie noch Betreuungskontakt halten können. Früher war es so, dass am Tag des Umzugs der Kontakt abgebrochen ist. Allgemein kann ich sagen, dass das Verständnis der Jugendämter dafür gewachsen ist, dass wir in die Perspektiven der Kinder mit einbezogen werden müssen. 

Was ist wichtig bei der Auswahl der Bereitschaftspflegeeltern?

Es muss ein Verständnis geben für diese besonderen Kinder mit ihrer besonderen Lebenssituation stecken, genauso wie für ihre Eltern. Es sollte keine Verurteilung von deren Lebensumständen geben. Es ist wichtig, dass wir – bei allen Versäumnissen und Fehlern der Eltern - den Kindern helfen, eine positive Identität zu entwickeln. Dazu gehören auch die Eltern mit allem, was sie gut und schlecht gemacht haben. Hinzukommen müssen Wärme und ein empathisches Versorgen des Kindes, eine gewisse Klarheit und die Fähigkeit, sich abzugrenzen von dem, was an Schlimmem passiert ist. Und nicht zuletzt die Fähigkeit, loslassen zu können, denn eine Bereitschaftspflege ist nicht auf Dauer angelegt. In der Regel dauert die Bereitschaftspflege nicht länger als drei bis sechs Monate. Wir sind darauf bedacht, die Bereitschaftspflegeeltern in dieser Zeit gut wie möglich zu unterstützen. 

Interview: Christina Beischl, Salberghaus