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07.10.2024 - Ehemalige Salberghaus-Kinder auf Spurensuche nach ihrer Kindheit 


Irgendwann kommt der Wunsch, sich genauer mit der Vergangenheit zu befassen. Wie war das damals, als ich ins Salberghaus kam, warum konnte ich nicht zuhause bleiben? Kann sich dort noch jemand an mich erinnern? Agnes Gschwendtner, die Leiterin unserer Putzbrunner Einrichtung, kann das gut verstehen. Sie freut sich immer, wenn Ehemalige zur "Nachforschung" kommen. Ihnen dabei zu helfen, nennt sie "meine schönste Aufgabe". Warum das so ist, erzählt sie in diesem Bericht.

Die Kinder können im Salberghaus eine beschützte und fröhliche Zeit verleben. Alle Fotos: KJF/Salberghaus Kathrein Verena
 

Dennoch ist es nicht immer einfach für sie. Sie sind zu klein, um zu begreifen, warum sie für eine gewisse Zeit nicht in ihrer Familie sein können. Später können dann Fragen kommen.

Agnes Gschwendtner, Leiterin Salberghaus. Foto: privat
 
Alle paar Monate klingelt bei uns das Telefon, oder eine E-Mail erreicht uns. So wieder vor zwei Wochen: 
"Sehr geehrte Frau Agnes Gschwendtner, ich habe letzte Woche angerufen, weil ich rausfinden wollte, wieso ich als Vierjährige ein Jahr bei euch untergekommen bin in der Eichhörnchengruppe. Habe bei den Eichhörnchen gewohnt von Oktober 199X bis September 199X. Bin dann nach XY umgezogen. Wie telefonisch besprochen, würde ich gerne Termine bekommen. Mit freundlichen Grüßen XY"

So oder so ähnlich lauten die Anfragen. Üblicherweise melden sich Ehemalige im Alter von ungefähr dreißig, oder erst im Alter um die 50 Jahre. Im Hintergrund steht bei ersteren nicht selten die Phase der eigenen Familiengründung, in der die eigene Kindheit wieder auftaucht. Die Älteren berichten manchmal von Pflegebedürftigkeit oder Tod von leiblichen Eltern oder Adoptiveltern, was anscheinend den Wunsch weckt, die eigenen Biografie noch einmal zu erforschen.

Es ist mir jedes Mal eine große Freude, ehemalige Kinder vor Ort zu begrüßen. Wenn sie sich melden, empfehle ich stets einen Besuch vor Ort, bei dem man gemeinsam die vorhandenen Informationen sichten kann. Einige haben noch Erinnerungen, die aber aufgrund des jungen Alters unserer Zielgruppe unklar sind und vor Ort neu sortiert werden können. So erinnerte sich eine Ehemalige, als wir im Garten unter zwei großen Linden standen. Hier hatte sie gespielt und hoch zu ihrer Wohngruppe gesehen. 

"Es gilt, nicht nur die professionelle Förderung und pädagogische Arbeit mit den Kindern zu leisten, sondern jedem Kind zu zeigen, dass es, so wie es ist, gewünscht, gemocht und geschätzt ist. Auch wenn wir es nur ein kurzes Stück des Weges begleiten."

Agnes Gschwendtner, Leiterin Salberghaus
Akten werden 50 Jahre lang verwahrt

Zentral für die Besucher:innen ist ihre Kinderakte von damals. Seit 1974 wurden im Salberghaus richtige Akten geführt, damals noch mit dem Fokus auf die medizinische Entwicklung der Kinder. Darin finden sich Informationen zu Gewicht, Ernährung und Kinderkrankheiten. Die späteren Akten sind interessanter. Es gibt ausführliche Berichte zu Aufnahmegründen, zu Fördermaßnahmen und Diagnostik und zu den Hintergründen für die Rückführung, Adoption oder Verlegung in eine andere Einrichtung. Es ist wichtig für die Ehemaligen, so viele Informationen wie möglich von "dritter Seite" zu erhalten. Daher sind wir sehr froh, dass wir per Beschluss des KJF-Vorstandes die Akten 50 Jahre aufbewahren können. Die gesetzliche Standardvorgabe von zehn Jahren ist für die ehemaligen Betreuten viel zu kurz; in dieser Zeit meldet sich kaum jemand. Die Ehemaligen waren im Lauf ihrer Suche in der Regel auch bei Jugendämtern, und sind mit der traurigen Tatsache konfrontiert, dass ihre Akten dort bereits vernichtet sind. Umso größer ist die Freude, dass sie bei uns wohl verwahrt auf sie warten.

Persönlich schätze ich die Besuche aus mehreren Gründen. Einmal macht es mich sehr froh, unterstützen zu können bei der oft aufreibenden Suche nach der eigenen Geschichte. Es ist schön, mitzuerleben, wie wichtig jede Information aus der eigenen Akte für die Ehemaligen ist. Viele Themen sind bewegend und ergreifend. Oft sind es einzelne Sätze, die einen Unterschied bedeuten. Eine junge Frau war einmal sehr glücklich, weil in der Akte stand, dass ein Ehepaar, bei dem sie als Baby vorübergehend von ihrer Mutter untergebracht worden war, "sie gerne behalten hätte".

Daraus leiten sich für mich wichtige Impulse für die Arbeit im Jetzt ab. Zum Beispiel ein Wissen über das tiefgreifende Gefühl, das eine Fremdunterbringung bei kleinen Kindern zu hinterlassen scheint, nicht gewollt worden zu sein, oder nicht gut genug gewesen zu sein - eine sehr bedrückende Erkenntnis, wenn man sieht, wie liebenswert jedes einzelne Kind hier ist, das keinerlei Verantwortung trifft für die Umstände, die es zu uns gebracht hat. Diese schwere Bürde der gefühlten Wertlosigkeit möchte man jedem Kind ersparen. 

Die Bürde einer gefühlten Wertlosigkeit möchte man jedem Kind ersparen. 
Hier läuft es gut!
Die Reihe "Erfolgsgeschichten" befasst sich mit dem Arbeitsalltag in unseren Einrichtungen. Im Fokus stehen sollen dabei nicht die Dinge, bei denen es hakt, oder die Probleme, die noch zu lösen sind, sondern die positiven Entwicklungsschritte, die erreichten Zwischenziele, die großen und kleinen Erfolge. Im Arbeitsalltag übersieht man diese nämlich nur allzu leicht. Dabei können Klient:innen wie Betreuer:innen daraus Kraft für die noch anstehenden Herausforderungen schöpfen.

Keine geschönten Versionen

Dazu gehört für mich eine kindgerechte, aber offene Kommunikation während der Zeit hier, damit ein Verständnis entsteht, warum sie nicht zuhause leben. Ebenso das Bemühen, den Kontakt zu den Eltern unbedingt zu ermöglichen, so dass sie eine realistische Sicht auf die Eltern gewinnen und diesen ihre Fragen stellen können. Das mag im Prozess schmerzhaft erscheinen, aber ich halte es für das Finden einer eigenen Wahrheit in der späteren Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie für hilfreich.

Besonders erfreulich ist es natürlich, wenn vor Ort Kolleg:innen arbeiten, die die Ehemaligen noch als Kind kennen. Die letzte Besucherin hatte sogar ein Fotoalbum dabei, und die Kollegin vor Ort konnte ihr viele Geschichten zu den Fotos und ihrer Kinderzeit im Salberghaus erzählen. Das ist unglaublich wertvoll, weil ihre Biografie für Ehemalige nur schwer nachverfolgbar ist. Die Angehörigen - in der Regel die Eltern - wollen das Thema oft nicht besprechen oder berichten nur eine geschönte Version der Geschehnisse. 

"Die Botschaft soll sein, dass dieser Übergangsort der Kindheit ein bisschen Heimat für sie bleibt, und sie jederzeit willkommen sind."

Agnes Gschwendtner, Leiterin Salberghaus
 
Schwieriger ist es noch, wenn Ehemalige zwar Informationen von Angehörigen bekommen, diese aber nicht mit ihren eigenen Erinnerungen und Gefühlen übereinstimmen. Viele berichten von einer Therapie, in der sie versuchen, eine Wahrheit zu finden, die mit ihrem Empfinden übereinstimmt. Gerade in diesen Fällen ist die Quelle einer dritten Person, sind Unterlagen und Berichte aus der Zeit sehr wichtig. Den Betroffenen steht jede Unterstützung dabei zu.

Eine weitere wichtige Erkenntnis für mich ist die Notwendigkeit, diese "eigene Wahrheit" der Ehemaligen, die fragil ist, zu akzeptieren und zu respektieren. Dazu gehört, die Eltern nicht "schön zu reden". Oft möchte man sagen, dass die Eltern sicher ihr Bestes getan haben, oder es auch schwer hatten - das ist aus den Akten meist recht ersichtlich. Eine Besucherin hat mir einmal gesagt, dass es sie unglaublich wütend und unglücklich macht, wenn gutmeinende Therapeut:innen oder Berater:innen ihr ein positives Bild ihrer Eltern vermitteln wollen. Sie war der Meinung, dass ihre Mutter sich trotz aller Schwierigkeiten mehr hätte anstrengen können und müssen. Die Rückmeldung konnte ich gut nachvollziehen. Ich habe mich ertappt gefühlt, mit meinem Bedürfnis, irgendwie das Gute in den Eltern zu sehen. Das ist in der Zusammenarbeit mit Eltern wichtig, aber im Gespräch mit Ehemaligen verkneife ich mir seither jede Bewertung der Eltern - positiv wie negativ. 

Dieser Übergangsort der Kindheit soll ein bisschen Heimat bleiben.
 

Irgendwann wird der Wunsch geweckt, die eigene Biografie noch einmal zu erforschen. Symbolbild: Pixabay
Ihre Geschichte wartet auf sie

Der Besuch vor Ort ist ein großer Schritt für Ehemalige, und man merkt ihnen an, dass es aufwühlend und anstrengend ist. Daher nehme ich mir immer viel Zeit, versuche, ihren Wünschen zu folgen und biete an, dass sie jederzeit ein zweites oder drittes Mal kommen können. Die Botschaft soll sein, dass dieser Übergangsort der Kindheit ein bisschen Heimat für sie bleibt, und sie jederzeit willkommen sind. 

Die Ehemaligen sind beeindruckende Menschen, die großen Mut zeigen, sich ihrer Geschichte zu stellen. Es sind richtige Persönlichkeiten darunter, denen man ansieht, wie sie sich mit einem starken Willen und großer Resilienz zu den Erwachsenen entwickeln konnten, die sie sind. Oft stehen sie mitten im Leben, berichten aber von Phasen mit emotionalen Tiefpunkten und von Unterstützung, die sie erst finden mussten. So ganz gerade verlief der Weg selten - Ausnahmen bilden hier ein paar wenige, die früh in anscheinend sehr guten Adoptivfamilien groß werden konnten. Eine dieser Ausnahmen spendet regelmäßig für das Salberghaus, um nach eigenen Worten "etwas zurückzugeben". 

Es gibt aber auch jene, die nur einmal anrufen oder schreiben, und denen man anmerkt, dass sie stark belastet sind. Manche haben psychische Probleme, andere wirken noch sehr verstrickt in Loyalitäten zur Herkunftsfamilie, die den Blick auf die eigene Erfahrungswelt vernebeln. Hier biete ich an, sich einfach später wieder zu melden, wenn sie die Kraft aufbringen können, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Es ist gut, vermitteln zu können, dass ihre Geschichte hier - zumindest für 50 Jahre - auf sie wartet. 
 

"Die Freude darüber, zu welch wunderbaren jungen Menschen Kinder heranwachsen können, die früh vom Schicksal gebeutelt wurden, ist etwas sehr Schönes und gibt Hoffnung und Zuversicht für die tägliche Arbeit mit den Kindern von jetzt."

Agnes Gschwendtner, Leiterin Salberghaus
Eine große Gruppe von Ehemaligen ist auf andere Weise bei uns präsent. Die langjährigen Mitarbeiter:innen pflegen nicht selten Kontakt zu mehreren Ehemaligen, mit denen sie auch nach der Verlegung den Kontakt gehalten haben. Sie begleiten sie über Jahrzehnte locker, treffen sich manchmal und halten so die Erinnerungen lebendig. Die Freude darüber, zu welch wunderbaren jungen Menschen Kinder heranwachsen können, die früh vom Schicksal gebeutelt wurden, ist etwas sehr Schönes und gibt Hoffnung und Zuversicht für die tägliche Arbeit mit den Kindern von jetzt.

So bleiben also die Besuche unserer Ehemaligen beglückende Erfahrungen, und der Beweis dafür, wie wichtig die Arbeit mit jedem einzelnen Kind ist, und wie sorgsam wir mit unserem Einfluss auf die Biografien umgehen müssen. Es gilt, nicht nur die professionelle Förderung und pädagogische Arbeit mit den Kindern zu leisten, sondern jedem Kind zu zeigen, dass es, so wie es ist, gewünscht, gemocht und geschätzt ist. Auch wenn wir es nur ein kurzes Stück des Weges begleiten.

Text: Agnes Gschwendtner, Leitung Salberghaus