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22.12.2023 - "Die Armut sitzt wie ein großes, schwarzes Tier mit am Tisch"


Diese Geschichte, die unsere Mitarbeiterin Miriam Falkenberg über ihre Arbeit geschrieben hat, zwingt einen zum "Hinschauen". Schon diese Fotos einer Wohnung mitten in München, die man nicht sehen möchte ... Sogar der Geruchssinn schaltet sich beim Betrachten der Bilder ein. "Gesichter der Armut" hat die Autorin ihren Text betitelt. Es ist die Geschichte einer Familie, die kämpft.

Solche Möbel gehören umgehend auf den Sperrmüll, nicht in eine Küche. Fotos: Miriam Falkenberg/KJF

Erster Teil


Armut hat viele Gesichter und oft sind diese Gesichter sozusagen gut geschminkt oder verschleiert. Kinder und Erwachsene schämen sich ihrer Armut, es ist immer noch ein Stigma. Wenn man nicht zu armen Menschen nach Hause geht, fällt Armut nicht immer gleich auf. In unseren Einrichtungen der KJF haben wir mehr oder weniger viel mit Armut zu tun. In der ambulanten Erziehungshilfe (AEH) ist das Thema inzwischen omnipräsent, da wir zunehmend Familien aufnehmen, die armutsgefährdet oder arm sind. So übernehmen wir in der AEH Mitte gerade vermehrt Familie aus Pensionen, wie das Charlotte-von-Kirschbaumhaus, aus Gemeinschaftsunterkünften oder vom Hotel Regent am Hauptbahnhof.

Die Ursachen für Armut sind vielfältig und liegen in München auf der Hand. Da stehen auf der einen Seite die astronomisch hohen Mietkosten. Auf der anderen Seite gibt es die Armutsrisikofaktoren wie:
  • alleinerziehende Mütter und Väter
  • Großfamilien
  • unsicherer Aufenthaltsstatus
  • Krankheiten und Behinderungen
  • schlechte Qualifikationen
  • Einkommen aus Sozialleistungen oder aus dem Niedriglohnsektor
  • bereits in Armut aufgewachsen

Ich habe aus gegebenem Anlass dieses Jahr einen Fachtag zum Thema Armut am Campus Soziale Arbeit in Pasing besucht. Dörthe Friess vom Lichtblick Hasenbergl der KJF hat dort einen ganz hervorragenden Workshop geleitet und uns Einblicke in die Arbeit des Lichtblicks gegeben. Aus diesem Workshop, dem Austausch und den Vorträgen renommierter Referent:innen nehme ich mit:

Die nackten Zahlen

20 Prozent der Bevölkerung (17,3 Millionen) waren 2022 von Armut bedroht oder betroffen.
So wirkt Armut:
  • Arme Menschen denken, dass sie schuld an ihrer Armut sind. So wird das Problem individualisiert. Armut hat jedoch strukturelle Ursachen.
  • Arme Menschen haben eine deutlich kürzere Lebenserwartung und sind häufiger krank.
  • Arme Menschen haben geringere Bildungschancen, was die Armut oft reproduziert.
  • Arme Menschen fühlen sich in ihrem Menschsein, ihrer Würde, in Frage gestellt.
  • Arme Menschen fühlen sich sozial nicht anerkannt.
  • Arme Eltern sind oft selbst Kinder armer Eltern und geben die Armut an ihre Kinder weiter.
  • Die schlimmste Vorstellung von Kindern aus Armutsfamilien ist, dass sie nie aus der Spirale der Armut herauskommen können.

Ziel sozialer Arbeit
  • Das Empowerment armer Menschen im Sinne der Selbstermächtigung 
  • Zunehmend wird auch gefordert, das Sozialpädagog:innen mit ihrer Armuts-Expertise an die Politik herantreten und/oder als Verbände Lobbyarbeit machen.

Grundlage sozialer Arbeit im Felde der Armut: Armutssensibles Handeln

Das bedeutet, wir sollen und wollen:
1. Die Stigmatisierung armer Menschen vermeiden oder reduzieren
2. Kompensation und Chancengleichheit für die Familien herstellen
3. Partizipation und Teilhabe ermöglichen

Schaumstoff und ein Tuch drüber, schmutziges Bettzeug, verschmierte Wände - so sollte niemand schlafen müssen.
 

Man behilft sich mehr schlecht als recht. Geht nicht anders.

Zweiter Teil


Ich möchte nach all diesen Fakten und Informationen der Armut ein Gesicht geben. Dafür möchte ich von einer Familie erzähle, die wir in der AEH begleiten. Es ist eine alleinerziehende Mutter aus Gambia und ihre sechs Kinder. Die Kinder sind zwischen einem und 16 Jahren alt. Seit ihrer Ankunft hier vor acht Jahren leben sie in drei Zimmern einer Gemeinschaftsunterkunft (GU) in der Schwanthalerstraße. Die Gegend zwischen Hauptbahnhof und Stachus ist keine, wo Kinder gut aufwachsen können. Drogensüchtige, Lärm, Gestank, Müll, Dealerei haben hier ihren Platz. Die GU ist ein heruntergekommener Altbau der Regierung von Oberbayern. Derzeit werden die Wohnungen renoviert, was ein wenig Hoffnung auf Besserung aufkommen lässt. Die Armut kann man hier auch riechen. Es gibt ein Restaurant im Erdgeschoss, das Ungeziefer und Kakerlaken anzieht, der Innenhof ist immer wieder vermüllt und vollgestellt. Kinderwägen, die unten stehen gelassen werden, sind schnell weg.

Die Mutter ist mit 13 Jahren verheiratet worden mit einem Mann, den sie nie wollte und nie geliebt hat. Er hat sie mitgenommen nach Spanien. Dort hat sie ihre ersten drei Kinder bekommen, das erste mit 15 Jahren. Das dritte Kind, ein Junge, kam mit schweren Behinderungen zur Welt. Die Ärzte in Spanien rieten den Eltern, nach Deutschland zu gehen. Hier gebe es die besseren Kliniken und Versorgungsmöglichkeiten für den Jungen. So kam die Familie nach München. 

Fatalerweise geriet die Familie dann in München in die Mühlen eines Asylverfahrens. Die Mutter hat nach wie vor nur eine Duldung, die Kinder sind spanische Staatsbürger. Seit Sommer wartet die Mutter auf einen gesicherten Aufenthalt nach dem Chancengesetz. Eigentlich müsste das Papier längst da sein, doch das Kreisverwaltungsreferat ist überlastet. Nach sechs Jahren in Deutschland haben sich die Eltern getrennt. Ein sechstes Kind wurde aus einer Liebesbeziehung gezeugt, der Kindsvater lebt in der Türkei. Er kann nicht einreisen, da die Mutter noch keinen Aufenthalt hat. 

Die Mutter hat jetzt für alle Kinder eine Betreuung. Sie ist eine zierliche und zugleich ungeheuer robuste Person, die alles dafür tun will, ihre Familie aus der Armut zu holen. Sie will endlich mit einem Deutschkurs weitermachen und einen Job finden. Aber die Deutschkurse sind überlaufen, es gibt nur sehr wenige Sprachträger in München, die sich auf die Bedürfnisse von Müttern mit Kindern ausrichten. Hinzu kommt, dass die Mutter ohne Aufenthaltspapiere den Kurs selber zahlen müsste. Sie spart aber das wenige Geld, das sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommt für ihre Anwältin, die sich um den Aufenthalt kümmern soll. So beißt sich die Katze in den Schwanz. Wir beobachten das immer wieder, dass die fehlende Infrastruktur und die Überlastung der Behörden, Armut fördern oder nicht abbauen helfen. Ohne die Lebensmittelgaben der Tafel käme die Mutter nicht über die Runden. Ohne einen Zuschuss der KJF könnte sie 2024 keinen Deutschkurs beginnen. Hier wird also immerhin erfolgreich kompensiert. 

Die Wohnung ist in einem sehr desolaten Zustand. Die Fotos sprechen wohl für sich. Zur materiellen Armut kommt noch die Bildungsarmut der Mutter. Da sie noch als Kind/Heranwachsende verheiratet wurde, muss man ihr viele Dinge, die für uns selbstverständlich sind, erklären, etwa wie man eine Wohnung sauber hält. Oder: Wie schützt man das Baby vor dem Herunterfallen aus dem Hochbett der älteren Mädchen? Welche Entwicklungsphasen durchlaufen Kinder? Was brauchen Kinder für eine gesunde Ernährung? Welche Ärzte müssen sie besuchen? Und vor allem auch: Wie kann ich diese heruntergekommenen Zimmer ein bisschen wohnlicher gestalten? Wie kann vermieden werden, dass sie noch weiter herunterkommen?

"Es ist nicht schön, schwarz zu sein. Immer wieder bekomme ich einfach so auf der Straße hässliche Sachen zugerufen, wie 'Niggerschlampe'. Aber schwarz und arm sein, das ist eigentlich nicht auszuhalten."

Tochter, 16 Jahre alt
 
Gerade auch für die beiden älteren Mädchen (13 und 16) ist das Leben ein ständiger Spagat. Ein Spagat zwischen den Kulturen, zwischen armer und reicher Welt, zwischen ihren Wünschen für die Zukunft und der Realität. Sie erfahren durch ihre Freundinnen und durch die Medien, was bei uns als Lebensstandard gilt. Sie gehen in gepflegte Schulen und betreten schöne, fremde Wohnungen. Und erleben Tag für Tag die Tristesse ihrer eigenen Wohnung, die eigentlich, wie mir das eine Mädchen sagte, keine Beheimatung gibt, sondern ein "Wohnloch" sei. Fragt man die beiden Mädchen, was sie mal beruflich machen wollen, so sagen beide wie aus der Pistole geschossen: "Ich will einen Job, in dem ich viel Geld verdiene! Zum Beispiel bei einer Bank! Oder als Autoverkäuferin." Die jüngere der beiden hat ihr Schulpraktikum in einer Parfümerie gemacht und die saubere und wohlriechende Glitzerwelt für zwei Wochen genossen. Damit sie das Praktikum antreten konnte, brauchte sie zunächst neue Kleidung, da die eigene abgetragen, zu klein oder kaputt war. "Weißt du", meinte das Mädchen zu mir, "es ist nicht schön, schwarz zu sein. Immer wieder bekomme ich einfach so auf der Straße hässliche Sachen zugerufen, wie 'Niggerschlampe'. Aber schwarz und arm sein, das ist eigentlich nicht auszuhalten. Ich habe kein gutes Leben."

Die Mutter erzählt, dass ihre zwei jüngeren Kinder (8 und 5) nichts Anderes kennen als ihr "Wohnloch". Das kann ein Vor- oder Nachteil zu den älteren Geschwistern sein, die sich noch an die schöne Wohnung in Spanien erinnern. In all dieser Armut hockt das Baby (15 Monate), und ist wie durch ein Wunder immer am Strahlen und Lachen. Das Baby im Dreck.Der kleine Junge trägt das Wort "Frieden" in der Sprache der Mutter in seinem Namen, und Frieden auf der Grundlage einer umfassenden Gerechtigkeit möchte man dieser Familie von Herzen wünschen.

Dem behinderten Sohn geht es übrigens gut. Medizinisch ist er gut versorgt. Das Beste ist, dass er dieses Jahr in das Schülerwohnheim des ICP (früher Spastikerzentrum) ziehen durfte. Dort wird er von Montag bis Freitag betreut. Er hat ein eigenes Zimmer und blüht dort in dem gepflegten, schönen Umfeld auf. Jeden Samstag fragt er seine Mutter, wann er wieder zurückdarf. Dabei genießt er es auch, am Wochenende seine Geschwister und seine Mutter um sich zu haben. Aber es ist deutlich, dass er ein weiteres Zuhause gefunden hat - ohne Armut.

Der letzte Anstrich der Wände ist lange her.
 

Wohin mit der Wäsche? Zur Not über die Wohnungstür, deren Schlossbeschlag schon lange ausgebrochen ist.
 

Dritter Teil


Wir sind immer wieder erstaunt, welche Kraft und Ressourcen Menschen in Armut haben. Sie werden vom unbedingten Willen zur Verbesserung angetrieben. Zugleich prägt das Thema Armut immer mehr unsere Arbeit. Sie sitzt wie ein großes, schwarzes Tier mit uns und den Familien am Besprechungstisch. Und dieses Tier hat ständig Hunger. Wir hören seinen Magen knurren und können weder an ihm vorbei denken noch reden. Alle Themen rund um Erziehung, unsere pädagogische Beratung und Intervention, unsere kreativen Ideen und Angebote für die Familie, ordnen sich diesem Tier unter.

München ist eine reiche Stadt in einem reichen Land. Auf dem Fachtag habe ich auch erfahren, wie viel besser München in Sachen Armut und Armutsbekämpfung aufgestellt ist als viele andere Städte. Das ist im 500seitigen Armutsbericht der Stadt nachzulesen, die sich eine extra Stabstelle zu dem Thema leistet. Und dennoch: Das macht die Armut der vielen, vielen Einzelnen nicht besser.

Und wir Sozialarbeiterinnen, die wir in aller Regel auf der "anderen Seite", der privilegierten Schöner-Wohnen-und Leben-Seite stehen:
Wie lassen wir uns berühren?
Wie können wir helfen?

Da wo wir hilflos an Grenzen stoßen, müssen wir uns zusammentun und darüber sprechen. Mit diesem Artikel versuche ich dazu einen Beitrag zu leisten.

Text: Miriam Falkenberg, Sozialpädagogin bei den Ambulanten Erziehungshilfen, SBW-Flexible Hilfen