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06.11.2023 - Das muss besser werden: Forderungen für eine hochwertige Ganztagsbildung


Das Netzwerk Ganztagsbildung ist ein Zusammenschluss von Akteuren im Ganztag, die sich für eine Verbesserung der Ganztagsbildung von Kindern und Jugendlichen in und um München einsetzen. Ab 2026 wird es im Freistaat sukzessive für alle Grundschüler:innen einen Ganztagsanspruch geben. Kurz vor den bayrischen Landtagswahlen Anfang Oktober 2023 legte das Netzwerk ein Forderungspapier vor, in dem es aufzeigt, welche Forderungen für einen hochwertigen Ganztag noch erfüllt werden müssen. Auch unsere Mitarbeiterin Katharina Bail, Bereichsleitung Schulbezogene Hilfen bei SBW-Flexible Hilfen, ist Mitglied des Netzwerks Ganztagsbildung und hat an der Formulierung des Papiers mitgewirkt.

Ein pädagogisches Konzept, hohe Qualitätsstandards aber auch genügend Freiräume und vor allem eine ausreichende finanzielle Ausstattung sind unter anderen notwendig für eine gelingende Ganztagsbildung. Foto: Shutterstock/KJF
Bereits 2017 bezog das Netzwerk Ganztagsbildung, ein Zusammenschluss vielfältiger Akteure im Ganztag in und um München, Stellung und veröffentlichten ein Positionspapier mit Wünschen und Forderungen an Politik und Gesellschaft, um Ganztagsbildung für Kinder und Jugendliche in München zu verbessern. Für 2026 wurde der sukzessiv durch die Länder umzusetzende, gesetzliche Ganztagsanspruch für Grundschüler:innen beschlossen, was einen massiven quantitativen Ausbau des Ganztags bedeutet. Rechtzeitig zur bayrischen Landtagswahl hatten wir es deswegen als notwendig erachtet, unsere Positionen für einen qualitativ hochwertigen, gelungenen Ganztag noch einmal aktualisiert aufzulegen. Wir waren uns einig: Es braucht ein Miteinander aller Akteure im Ganztag, von Kindern und Jugendlichen, Schulen, Trägern, Eltern, Vereinen und Verbänden etc., um auf dieses Ziel in Zeiten sinkenden Wachstums und Fachkräftemangel hinzuarbeiten. Wir gehen davon aus, dass diese Positionen auch über München hinaus Gültigkeit besitzen und möchten so einen Beitrag leisten, die Herausforderung Ganztagsanspruch für alle, aber insbesondere für Kinder und Jugendliche positiv zu gestalten. 

Das Netzwerk Ganztagsbildung ist ein Zusammenschluss von unterschiedlichen Schulen mit Ganztagsangeboten und nicht-schulischen Bildungsakteuren im Großraum München. Es setzt sich aus der Praxis für die Praxis in folgenden Bereichen für mehr Bildung im Ganztag ein:

• Vernetzung der Ganztagsakteure
• Entwicklung von Qualitätsstandards
• Paten aus der Praxis
• Projekte zur Ganztagsbildung

Das Netzwerk Ganztagsbildung wird koordiniert von Kreisjugendring München-Stadt und Münchner Trichter e.V.

Eine gemeinsam von Jugendhilfe und Schule verantwortete zukunftsorientierte Ganztagsbildung ist für das Netzwerk Ganztagsbildung eine wichtige Voraussetzung für eine umfassende Erweiterung der Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen. Die Basis für ein inklusives Bildungskonzept bildet ein erweiterter Bildungsbegriff, der sowohl formale als auch non-formale und informelle Lern- und Erfahrungsprozesse einschließt. Dazu gehören Dimensionen wie
Autonomieerfahrung und Selbstwirksamkeit, Freiwilligkeit und Zeitsouveränität sowie Wertschätzung und Wohlbefinden.

Qualitativ hochwertige Ganztagsbildung bietet die beste Möglichkeit, zukunftssichernde Bildungsgerechtigkeit herzustellen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten. Der erweiterte Bildungsbegriff muss aus Sicht des Netzwerkes Ganztagsbildung die Öffnung von Schule nicht nur zur Jugendhilfe, sondern auch zu zivilgesellschaftlichen Kräften, zur Wirtschaft und anderen Bildungsträgern ermöglichen.

Notwendige Neuauflage des Forderungspapiers

Ab 2026 besteht sukzessive für alle Grundschulkinder ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Vom pädagogischen Konzept über Finanzierung, Kooperation und Verantwortung, Räumlichkeiten bis zum Mangel an qualifiziertem Betreuungspersonal sind jedoch noch viele Fragen offen. Gelungener Ganztag ist für Kinder und unsere Gesellschaft eine echte Chance - dazu müssen aus unserer Sicht noch einige Bedingungen erfüllt werden. Die Forderungen sind:

> Ganztagsbildung braucht ein pädagogisches Konzept

Das 2021 vom Bundestag verabschiedete Ganztagsförderungsgesetz verpflichtet alle Länder und Kommunen zu einer Umsetzung des Ganztagsanspruchs für Grundschüler:innen ab 2026. Ein pädagogisch verbindliches Rahmenkonzept für den Ganztag gibt es für die Umsetzung bisher nicht. Herausforderungen hierbei sind beispielsweise die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung(en), die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthintergrund, die rasch zunehmende Durchdringung des Alltags von Kindern und Jugendlichen mit neuen Medien und die Entwicklung zu einer immer stärker automatisierten Arbeitswelt.

Um dem erweiterten Bildungsbegriff Rechnung zu tragen, der über eine reine Qualifizierung hinausgeht, muss ein pädagogisches Konzept des Ganztags aus Sicht des Netzwerks Ganztagsbildung außerdem auf aktuelle Herausforderungen im Kinder- und Jugendalter, zum Beispiel die immer höhere psychische und soziale Belastung durch Pandemie, Krisen und Kriege eingehen. Da die Familie als Sozialinstanz durch die zeitliche Ausdehnung auf den Ganztag, eine geringer werdende Rolle spielt, hat Ganztagsbildung eine Lücke zu füllen. Dazu braucht es pädagogische Konzepte, die neben der Uraufgabe von Schule - der Qualifizierung - auch die Verselbstständigung und Selbstpositionierung von Kindern und Jugendlichen im institutionellen Kontext thematisieren und fördern. 

Ziel des Netzwerks Ganztagsbildung ist die Schaffung von fachlichen und strukturellen Rahmenbedingungen, die gemeinsame, von Schule und Jugendhilfe getragene Maßnahmen und Programme ermöglichen. Das Konzept muss gemeinsam mit langjährigen Ganztagsakteuren und im Zusammenspiel von Schule und Jugendhilfeverwaltung, Vertretungen von Schüler:innen und Eltern sowie den einschlägigen Agenturen und Netzwerken entwickelt werden.

> Ganztagsbildung braucht Beteiligung und Dialog

Eine nachhaltige und wirksame Entwicklung des Ganztags gelingt nur im Verbund aller Akteure. In den Kooperationsverträgen zwischen Staatsregierung und Trägern sind deswegen aus Sicht des Netzwerks Ganztagsbildung die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung des Ganztagsbetriebs sowie die Beteiligung der Eltern verbindlich zu regeln. Bei der fachlichen Entwicklung der Ganztagsbildung sind neben den Lehrer:innenverbänden auch die Erfahrungen der Ganztags-Akteure sowie die bereits bestehenden kommunalen und bundesweiten Programme und Modelle einzubeziehen.

> Ganztagsbildung braucht Qualitätsstandards

Nur auf Basis eines gemeinsamen Qualitätsverständnisses aller Akteure im Ganztag können verbindliche Qualitätsstandards formuliert werden. Zur Umsetzung von Qualitätsstandards im Ganztag braucht es pädagogisches Fachpersonal, das - insbesondere in Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels - fair und tariflich zu entlohnen ist. Die komplexe Zusammenarbeit verschiedener Professionen im Ganztag erfordert Kompetenzen im Bereich Pädagogik, Kunst und Kultur, Sport und Bewegung, Kommunikation, Informationstechnologie und Organisation. Hierfür müssen entsprechende Aus- und Fortbildungsmodule entwickelt und Kooperationen gestärkt werden. Das Netzwerk Ganztagsbildung fordert die Entwicklung verbindlicher Qualitätsstandards, deren Umsetzung und systematische Evaluation.

> Ganztagsbildung braucht Freiräume

Im Sinne der Entwicklung von lokalen Bildungslandschaften müssen in der Ganztagsbildung die zeitlichen, strukturellen und personellen Freiräume hergestellt werden, die eine Öffnung der Schule in den Sozialraum fördern. Dazu gehören Ausflüge zu Fach- und Kulturveranstaltungen, die Verlagerung von Projekteinheiten an dritte Orte oder in den öffentlichen Raum sowie die Auflösung des Stundenplan-Takts hin zu Projektphasen (einzelne Tage bis zu Projektwochen), die vollständig an außerschulischen Orten stattfinden. Freistaat und Kommunen müssen bei der Einbeziehung und Ausschöpfung der im Sozialraum existierenden Räume (etwa Freizeitstätten, Stadtteilkulturhäuser, Kirchengemeinden, Sportvereine) für die außerschulischen Angebote zusammenarbeiten. Die Einrichtung von Ruhe- und Mehrzweckräumen sowie von Räumen für die Schüler:innen-Mitverantwortung ist dabei besonders zu fördern.

> Ganztagsbildung braucht Esskultur

Das Mittagessen muss qualitativ den Anforderungen gesunder Ernährung entsprechen (gemäß den Bayrischen Leitlinien der Schulverpflegung). Zudem muss hier Raum und Gelegenheit sein, Esskultur zu erleben und einzuüben. Die Verpflegung sollte Teil des pädagogischen Konzeptes sein und immer pädagogisch begleitet werden. Die Kosten für das Mittagessen im Ganztagsbetrieb sind von Freistaat und Kommunen zu finanzieren. Ein Großteil davon kann voraussichtlich durch den Abbau der bislang mit der Finanzierung verbundenen Bürokratie (etwa Bildungs- und Teilhabepaket) gedeckt werden.

> Ganztagsbildung braucht Geld

Das Netzwerk Ganztagsbildung stellt fest: Ein qualitativ hochwertiger Ganztag braucht eine gute finanzielle Ausstattung, die dynamisch an die entsprechenden Preis- und Tarifsteigerungen angepasst werden muss. Jede Schule benötigt ein eigenes Sachmittelbudget für pädagogische Maßnahmen, kulturelle Veranstaltungen, Fahrtkosten etc., das sie selbstverantwortlich und unternehmerisch nach dem örtlichen Bedarf einsetzen kann.

Es fehlt die Möglichkeit, langfristige Verträge mit außerschulischen Trägern abzuschließen, um Fluktuation und Unsicherheit auf beiden Seiten zu reduzieren. Das aktuell in München präferierte Modellprojekt der Kooperativen Ganztagsbildung zeigt erneut auf, wie der Ausbau stockt, wenn Projekte unsicher oder nicht ausreichend finanziert sind. Es mangelt an Mitteln für Anschaffungen von Ausstattung und Material, für Aufführungen, Ausflüge und Projekte. Für die fachliche Koordination, die Overhead-Kosten für Organisation und Verwaltung (Personal, Abrechnung, Verträge) und Qualitätsentwicklung, (gemeinsamen) Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, Supervision sowie Kosten für Evaluation werden derzeit weder auf Schul- noch auf Trägerseite ausreichend Mittel bereitgestellt. Hierfür muss mindestens ein Anteil von 15 Prozent der Maßnahmekosten zusätzlich für beide Partner bereitgestellt werden.

Grundsätzlich ist Ganztagsbildung als flexibles schulisches Angebot Aufgabe des Freistaats. Hierzu fordert das Netzwerk Ganztagsbildung wieder die früher bewilligten 18 zusätzlichen Lehrkraftwochenstunden (statt zurzeit 12 Stunden) je gebundener Ganztagsklasse und Schuljahr zur Verfügung zu stellen. Ein kommunaler Anteil an der Finanzierung wird bereits geleistet. Eine Uneinigkeit über die jeweiligen Finanzierungsanteile darf nicht dazu führen, dass junge Menschen ungenügende Angebote bekommen.

> Ganztagsbildung braucht Kooperation

Das Netzwerk Ganztagsbildung fordert, dass für die Realisierung der aufgestellten Forderungen Freistaat und Kommunen den strukturellen und finanziellen Rahmen bereitstellen müssen. Kinder und Jugendliche brauchen Bedingungen, die ihnen Perspektiven für ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Leben geben. Die Beiträge und die Zusammenarbeit von Politik, Verwaltung, Verbänden, Zivilgesellschaft und Wirtschaft schaffen hier die Grundlagen für die Zukunft unserer Gesellschaft.