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01.04.2020 - Corona: Es muss eine noch nie erlebte Situation bewältigt werden


Im Krisenmodus: Stimmungsbilder aus einigen der KJF-Einrichtungen zeigen die tiefe Verunsicherung, die durch das Virus ausgelöst wurde. Aber auch die Anpassungsfähigkeit der Mitarbeitenden, ihren Zusammenhalt und ihre Hoffnung.

Pflege, Behandlung, Betreuung und Unterstützung von Menschen muss auch in Zeiten der Kontaktsperre ermöglicht werden. Für die KJF-Einrichtungen ein ständiger Kraftakt. Foto: Unsplash
 
Katastrophenfall in Bayern – es geht fast nichts mehr. Das Corona-Virus hat uns fest im Griff, schränkt unser Leben drastisch ein. Direkte Begegnungen von Mensch zu Mensch und erst recht körperlicher Kontakt wie Händeschütteln oder Umarmungen außerhalb der Familie sind nicht mehr möglich. Schulen, Universitäten, Geschäfte sind geschlossen, sogar Gottesdienste verboten. Sämtliches Pflegepersonal und die ÄrtzInnen arbeiten am Anschlag und mit dem Wissen, dass es wahrscheinlich noch viel schlimmer wird.

Auch die Einrichtungen der KJF stehen vor ungeheuren Herausforderungen. Sie müssen einen Weg finden zwischen dem Schutz ihrer Mitarbeitenden und Betreuten auf der einen Seite und der menschlichen Nähe, ohne die Pflege, Betreuung, Behandlung und Beratung nicht möglich ist, auf der anderen. Wir haben um Stimmungsbilder aus den Einrichtungen gebeten. Sie sollen exemplarisch stehen für die ganze KJF-Familie.
 
Text: Gabriele Heig, Pressesprecherin

Stephan Dauer, Leitung Salberghaus:

"Im stationären Bereich sind die Veränderungen am weitreichendsten. Die kleinen Kinder haben bis zum 19. April keinen Besuchskontakt zu ihren Herkunftsfamilien, gruppenübergreifende Angebote sind ausgesetzt, der Aufenthalt im Garten muss getrennt nach Wohngruppen erfolgen, Therapien teilweise ausgesetzt werden und vieles andere mehr. Im Bereich der Inobhutnahme-Gruppen gibt es große Sorgen, das Virus durch unabgeklärte Kinder in die Einrichtung zu holen. Es gibt keine Schutzkleidung, und die Verunsicherung der MitarbeiterInnen ist deutlich spürbar. Dennoch gibt es große Solidarität. Zum Beispiel unterstützen Kolleginnen aus den Tageseinrichtungen unsere Wohngruppen."
 

Agnes Gschwendtner, Stellvertretende Leitung Salberghaus:

"Wir arbeiten weiter, ohne Schutzkleidung und bei den kleinen Kindern auch ohne Mindestabstand, allerdings mit allerlei Veränderungen. So werden die Gruppen im Haus voneinander distanziert. Nicht nur Elternbesuche sind ausgesetzt, auch Spielplatzbesuche und Ausflüge finden derzeit nicht statt. Bei unserer Arbeit haben wir Unterstützung von den KollegInnen der Kitas, die einspringen, wenn Mitarbeiter des stationären Bereichs wegen Quarantäne oder sonstiger Krankheit (bisher – gottseidank – kein Corona-Fall) ausfallen. Dass die stationären KollegInnen der KJF genauso wie unsere Küche, die Verwaltung, die Haustechnik, die Hauswirtschaft und die Leitungen jetzt weiterarbeiten, fordert im Moment den MitarbeiterInnen viel Motivation und Engagement ab. Die allermeisten kommen ohne Klagen und mit einem Blick dafür, dass eine Betreuung der Kinder und Kinderschutz weiter wichtig sind und wir gerade jetzt auch unter erschwerten Bedingungen (keine Schule, kein Kindergarten, keine Ablenkung) ruhig weiterarbeiten müssen. Unser Auftrag bleibt auch in der Corona-Zeit.
  

Trotz der Sorgen: den Blick nach vorne richten

 

Beate Jakob-Kelldorfner, Teamleitung Gefährdetenhilfe, Adelgundenheim:

"Das Team ist überwiegend im Home-Office. Wir versuchen, unsere KlientInnen per Telefon bei der Stange zu halten. Das ist aber nicht mit einem persönlichen Kontakt vergleichbar. Ich versuche, nach vorne zu schauen, was nicht immer gelingt, weil man sich auch im privaten Bereich Sorgen macht. Aber es kann helfen, ein Stückchen Normalität zu bewahren und die Kontakte auf anderem Weg zu intensivieren. Das Positive kann sein, dass wir danach mehr zusammenhalten. Hoffen wir das Beste."
 

Bastian Eichhammer, Vorstand:

"Wir bemühen uns, alle möglichen Vorsorgemaßnahmen zum Schutz unserer MitarbeiterInnen vor einer möglichen Ansteckung zu ergreifen. Direkter Kontakt zu Kollegen und Klienten soll nur in unbedingt nötigem Umfang stattfinden. MitarbeiterInnen, die zu zweit in einem Büro sitzen, haben wir einen Einzelarbeitsplatz zugewiesen. Außerdem wurde die Gleitzeitregelung, insbesondere die Regelung zur Kernarbeitszeit und zur Mindesterreichbarkeit, vorübergehend außer Kraft gesetzt. So kann jeder Mitarbeitende in Absprache mit den KollegInnen und Vorgesetzten seine tägliche Arbeitszeit selbst bestimmen. Damit erreichen wir, dass möglichst wenige Mitarbeitende zeitgleich in den jeweiligen Abteilungen tätig sind und unmittelbaren Kontakt zueinander haben."
 

Fürsorge erfordert Nähe - Nähe, die jetzt eigentlich vermieden werden müsste. Foto: Unsplash
 

Bartholomäus Brieller, Vorstandsvorsitzender:

"Bereits am 12. März haben wir angewiesen, dass Konferenzen, Besprechungen, Weiterbildungen und sonstige persönliche Zusammenkünfte auf ein absolutes Minimum zu beschränken sind."


Astrid Wieland, Leitung Controlling:

"Wir in den Leitungspositionen wechseln zwischen Homeoffice und Büro je nach Besprechungsbedarf; nicht alles geht telefonisch. Auch die KollegInnen in den Abteilungen verfahren so, nach technischen Möglichkeiten und Dringlichkeiten und natürlich familiären Erfordernissen. Vorrang hat bei allem der Schutz der Gesundheit aller Kolleginnen."
 

Johanna Hofmeir, Leitung Lichtblick Hasenbergl:

"Wir sorgen uns sehr um unsere Kinder, Jugendlichen und Familien. Schon in normalen Zeiten kämpfen wir mit finanzieller Not, beengtem Wohnraum (zum Beispiel sechs Personen in zwei Zimmern), ungesunder Lebensführung, hohem Medienkonsum und schwierigen Familiensituationen. Wir befürchten, dass ein Großteil unserer Kinder mit Süßigkeiten vor dem Fernseher oder PC sitzt und Angebote für Erwachsene konsumiert. Aus Erfahrung wissen wir, dass viele die Anweisungen und Empfehlungen der Behörden nicht verstehen und/oder umsetzen und Auseinandersetzungen und häusliche Gewalt ansteigen. Die meisten unserer Mitarbeitenden befinden sich im Home-Office. Ein harter Kern von Auto- oder RadfahrerInnen, die deshalb weniger gefährdet sind als U-BahnfahrerInnen hält im Hasenbergl die Stellung. Mit den von uns betreuten Familien sind wir über Telefon und soziale Medien in freiwilligem aber intensiven Kontakt.

Das Familienzentrum hat für Mütter mit Babys und Kleinkindern einen 'Lichtblickfunk' eingerichtet. Jeden zweiten Tag erhalten die Frauen Tipps zur Beschäftigung der Kinder und wichtige Hinweise zur aktuellen Situation. Unsere Deutschlehrerin übersetzt Eltern mit Migrationshintergrund und Sprachschwierigkeiten die wichtigsten Hygienevorschriften und aktuellen Regelungen. Unser Kindergarten hat für alle Kinder Tüten fertiggestellt, in denen sich Fördermaterialien, Bastelbedarf und ein kleines Ostergeschenk befinden. Diese haben wir nach dem 'Klingelstreichprinzip' an die Familien verteilt. Alle haben sich sehr gefreut. Unsere Schulgruppen halten den Kontakt mit den Kindern über soziale Medien und Handy. Die Familien haben Notfallnummern, an die sie sich wenden können. Im Jugend-Ausbildungsbereich lernen wir per Facetime und Videokonferenz für die Abschlussprüfungen und stehen auch ansonsten für alle Fragen zur Verfügung. Alle Kontaktangebote (per soziale Medien) sind freiwillig. Sie werden aber ausgesprochen rege genutzt. Die jüngeren Kinder vermissen ihre BezugsbetreuerInnen, die Jugendlichen finden Video-lernen erstaunlich 'cool', und die Eltern zeigen sich erleichtert, dass sie uns in der Krise erreichen und auf uns zählen können."
 

Silvia Hofmann, Leitung WidA, Adelgundenheim:

"Unsere BetreuerInnen im WidA helfen sich mit Humor, um mit den Ansprüchen des sich stark veränderten Betreuungsalltags zurecht zu kommen. Wie können wir empathisch und angemessen Kontakte gestalten, wenn wir mit den Jugendlichen vor allem telefonieren? Was macht das mit unserer Qualität? Wie nah kann ich den Kindern kommen? Bei diesen Fragen merkt jede, wie gut es ist, ein Team zu haben, das zusammenhält. Dies macht es uns möglich, mit den gesteigerten Flexibilitätsanforderungen umzugehen. Jede von uns hat mit ihren persönlichen Ängsten, dem Auf und Ab der Gefühle und der Anspannung zu kämpfen. Auch wir müssen auf Abstand zueinander gehen, was nicht immer einfach ist, etwa mit erhöhtem Risikobewusstsein U-Bahn zu fahren. Denn wir müssen und wollen weiterhin arbeiten. Den Jugendlichen geht es bisher sehr gut. Keine Schule, weniger BetreuerInnen, die 'nerven', und zu wissen, dass die Krankheit vor allem die Älteren betrifft, schützt sie. In die Zukunft können wir natürlich nicht blicken, aber da es wohl erstmal schlimmer wird, bevor es wieder besser wird, scheint der Berufs'alltag', was auch immer das genau sein soll, noch fern zu sein."
 

Persönliche Betroffenheit zum Wohl der Kinder zurückstellen

 

Frank Eichler, Leitung Jugendhilfe Nord:

"Wir befinden uns in einer noch nie erlebten Situation mit unseren betreuten Kindern, Jugendlichen und Familien und auch unseren MitarbeiterInnen. Von den über 350 Kindern, die wir täglich betreuen, nehmen im Moment nur knapp zehn die Notfallbetreuung in Anspruch. Mit vielen Familien stehen unsere MitarbeiterInnen in telefonischem Kontakt, da klar ist, dass die Atmosphäre in den Familien zunehmend mit Spannungen aufgeladen sein wird. Vor allem in den Ambulanten Erziehungshilfen, wo der persönliche Kontakt eine Basis der Hilfe darstellt, ist die aufgezwungene Kontakteinschränkung äußerst heikel. Bastelpakete werden an Haustüren gehängt, regelmäßige Messengerdienst-Nachrichten geschickt und Videotelefonate geführt, Probleme und Sorgen online gelöst.

Dennoch gibt es Situationen, in denen der persönliche Kontakt lebensnotwendig ist. Etwa der Fall von körperlicher Gewalt gegenüber einem Kleinkind – eine Katastrophe –, Inobhutnahme mit dem Jugendamt und alles unter dem Druck, die hygienischen Vorgaben in einer solch extremen Situation einzuhalten. Es gibt Fälle, in denen das Jugendamt die Notfallbetreuung in den Tagesgruppen auf den Plan ruft, da es in der Familie vor der unzumutbaren Eskalation steht – das Kindeswohl ruft die freigestellten KollegInnen aus der Bereitschaft. Auf den ersten Blick ist es in unserer Freisinger Zentrale überall stiller – wenig Autoverkehr, viele unserer Parkplätze sind leer, das Haus fast vereinsamt und nur vereinzelt laufen wir uns als MitarbeiterInnen der Jugendhilfe Nord über den Weg. In den Wohngruppen dagegen ist es nicht still. Hier geht das Leben weiter unter dem Eindruck der Ausgangsbeschränkungen und mit der Sorge, es könnte einer aus dem Haus eine Infektion hereintragen. Auch das eine extreme Situation, in der die MitarbeiterInnen ihre persönliche Betroffenheit in der Krise zurückstellen, um den Kindern und Jugendlichen Sicherheit und Geborgenheit zu bieten.

Um unseren MitarbeiterInnen in ihrem täglichen Tun Sicherheit, Klarheit und Rückendeckung zu geben, sitzen wir ständig im Krisenstab zusammen – meist in kleiner Runde unter fünf – werten aus, analysieren, entscheiden und kommunizieren. Und täglich grüßt das Murmeltier – so geht es uns nach gut drei Wochen Krisenmodus. Die Müdigkeit wird hin und wieder verdrängt von positiven Meldungen. Die Mitarbeiterin, die am 3. März unsere erste positiv getestete 'Person 1' war, ist seit gestern wieder im Dienst – geheilt und voller Elan!"