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21.04.2021 - Balance zwischen Infektionsschutz und Teilhabe
Es war ein turbulentes Jahr für den Einrichtungsverbund Steinhöring. Um die KlientInnen bestmöglich vor Corona zu schützen, fanden große Umwälzungen statt, die dem Grundgedanken der Teilhabe zuwiderliefen und die BewohnerInnen in ihrer Selbstbestimmung deutlich einschränkten. Eine Chronologie der Ereignisse
Ausnahmezustande Corona: Zahlreiche Schilder weisen im EVS auf veränderte Regeln und aktuelle Hygienevorschriften hin. Fotos: EVS/KJF
Februar 2020
Ende Februar 2020 beruft Dr. Gertrud Hanslmeier-Prockl den ersten Krisenstab ein. Die Leiterin des Einrichtungsverbunds Steinhöring (EVS) in Trägerschaft der Katholischen Jugendfürsorge, ahnt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, dass die neuartige Erkrankung Covid-19 alles für sie, ihre MitarbeiterInnen und die KlientInnen verändern würde. "Ich war sehr besorgt um das Wohl unserer Kinder und Erwachsenen mit Behinderungen, weil viele von ihnen zur Hochrisikogruppe zählen", sagt Hanslmeier-Prockl.Beschaffung von Schutzmaterial
Leitende MitarbeiterInnen signalisieren sofort, dass sie die Sorge teilten und die Gesundheit der KlientInnen nun über allem stünde. Die Prioritäten zu Beginn der Pandemie sind klar: Alle MitarbeiterInnen müssen gut informiert und unterwiesen sein und es muss so schnell wie möglich genug Schutzmaterial in den Einrichtungen zur Verfügung stehen.
März 2020
Die ersten Großbestellungen an Masken und Handschuhen werden getätigt. Ein Hygienekonzept wird ausgearbeitet. An den Hauptstandorten werden Corona-Stationen eingerichtet, um für einen größeren Ausbruch gerüstet zu sein. Die KlientInnen werden in einfacher Sprache und mit Metacom-Symbolen in Hygieneregeln geschult. Die Telefone der MitarbeiterInnen stehen nicht mehr still. Alle ziehen an einem Strang: Es muss schnell reagiert werden.MitarbeiterInnen werden in die Bereiche versetzt, in denen nun mehr Personal benötigt wird: Wer kann in den systemrelevanten Bereichen der Werkstätten, wie Wäscherei, Gärtnerei oder der Landwirtschaft mitarbeiten? Wer wird in der Küche eingearbeitet?
Rundumbetreuung in den Wohngruppen
Aufgrund des ersten positiven Corona-Falles schließt eine Kita bereits am 12. März, vier Tage bevor von der Regierung Schließungen von Schulen und Kitas angeordnet wurden. "Mir war sofort bewusst, dass wir die Werkstätten und Förderstätten, in denen schwer- und schwerstmehrfachbehinderte erwachsene Menschen arbeiten, auch nicht öffnen können. Wenn Schulen und Kitas geschlossen sind, kann man keine Hochrisikogruppen mit Kleinbussen durch die Landkreise fahren und sie dann in Werkstätten quer durchmischen", sagt Gertrud Hanslmeier-Prockl. In Abstimmung mit den Landräten schließt Hanslmeier-Prockl bereits einen Tag vor der offiziellen Anordnung die Förder- und Werkstätten.
Werkstätten dicht, Schulen geschlossen, Kitas zu - ab Mitte März ist nur noch ein Einrichtungstyp des EVS tätig, das Wohnen. Nachdem sich die BewohnerInnen ausschließlich in ihren Wohngemeinschaften aufhalten und nicht mehr in die Arbeitsstätten gehen, benötigen sie in den Gruppen Rundumbetreuung. "Wir arbeiteten das komplette Personal in Wohnen ein und teilten es in feste Gruppen ein, sodass uns nicht zu viele MitarbeiterInnen zugleich ausfallen, falls eine Gruppe in Quanrantäne muss. Ziel war es, dass wir über lange Strecken in der Lage sein würden, die Herausforderungen von Quarantänen und die Betreuung von Corona-Erkrankten zu bewältigen", so die Leiterin des EVS.
Große Umwälzungen
Von den 950 MitarbeiterInnen arbeitet von Ende März an nur noch ein Drittel am angestammten Arbeitsplatz. "Es war eine Umwälzung, für die man bei der normalen Organisationsentwicklung Jahre bräuchte", sagt Hanslmeier-Prockl. "Ich habe einen hohen Respekt vor der Flexibilität und der Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft unserer MitarbeiterInnen."
Wichtige Schutzmaßnahmen: Die Quarantäne-Station in der Steinhöringer Förderstätte wird bereits im Frühjahr 2020 eingerichtet.
Isolation zum Schutz aller: Angehörige dürfen die Quarantäne-Station nicht betreten.
Nichts mehr so wie es war: Dr. Gertrud Hanslmeier-Prockl, Leiterin des EVS, musste im vergangenen Jahr kurzfristig weitreichende Entscheidungen treffen – zum Wohl ihrer KlientInnen.
April/Mai 2020:
Die Kohortierungen werden beibehalten. Die BewohnerInnen können Freunde anderer Wohnbereiche nicht mehr besuchen. Einige KlientInnen werden von ihren Angehörigen abgeholt und die kommenden Wochen zuhause betreut. Die Küchen stellen auf einen Sieben-Tagesbetrieb. Neben warmen Essen beliefern sie die Wohngemeinschaften auch mit allen Lebensmitteln. Von einem Supermarktbesuch wird den BewohnerInnen aufgrund der erhöhten Ansteckungsgefahr dringend abgeraten, obgleich sich die Teilhabe dadurch nochmal reduziert.Permanent müssen neue Anordnungen umgesetzt werden. "Ich habe wöchentlich an die Belegschaft Mails verschickt, mit Informationen, was gerade gilt", so Hanslmeier-Prockl. Erschwerend hinzu kommen Widersprüche in den Regelungen. Was für die einen KlientInnen gilt, gilt für die anderen nicht. Da der EVS ein Komplexstandort ist, mit Schulen, Kitas, Werk- und Förderstätten sowie betreutem Wohnen, gelten für die unterschiedlichen Bereiche auch unterschiedliche Vorgaben - für KlientInnen und Mitarbeiterschaft schwer zu vermitteln.
Besuchsverbot in den Wohngruppen
Besuche der Angehörigen finden ausschließlich im Besucherraum statt. Es besteht Maskenpflicht. Bis heute kann kein Besucher die Räume der Wohngemeinschaften betreten, da sich aufgrund der kleinen Einheiten eine Begegnung mit anderen BewohnerInnen nicht vermeiden lässt. Die Frühförderstellen haben mit Defiziten zu kämpfen. Einnahmen fallen weg. Die Krankenkassen leisten ausschließlich Zahlungen für face-to-face-Leistungen. Zwar stellen die MitarbeiterInnen in Bereichen wie der Logopädie auf Videotherapie um, dennoch fallen viele Therapiestunden aus.
Juni 2020
Bei den Externen müssen sich die Angehörigen nicht mehr nur an den Wochenenden um die KlientInnen kümmern, sondern übernehmen die Begleitung jede zweite Woche komplett. "Die Leistung dieser Angehörigen wird in der Öffentlichkeit bislang viel zu wenig gesehen", sagt Hanslmeier-Prockl.Die Arbeit in den Werkstätten kann wieder aufgenommen werden. Sie läuft nach einem festen Modus: Eine Woche kommen die Externen, die zuhause bei ihren Angehörigen leben, in der darauffolgenden Woche arbeiten die BewohneInnen der Wohneinrichtungen nach Wohngruppen geteilt in den Werkstätten. Die Auslastung der Werkstätten liegt bei 50 Prozent. Statt 420 Menschen beschäftigt der EVS wöchentlich 180 bis 220 Menschen. Dadurch produziert der Einrichtungsverbund deutlich weniger.
Arbeiten nur jede zweite Woche
"Für unsere BewohnerInnen ist die neue Arbeitssituation auch anstrengend, weil sie mit ihrer (Wohn-)Familie den ganzen Tag zusammen sind und keinen Kontakt zu ihren bisherigen ArbeitskollegInnen und Freunden haben können", sagt Hanslmeier-Prockl. Bis heute arbeiten die KlientInnen jeweils nur jede zweite Woche in den Werk- und Förderstätten. Die strikte Trennung zeigt Erfolg: Im Frühjahr und Sommer gibt es im EVS keine größeren Covid-19-Ausbrüche.
Die strikte Kohortenbildung und das Kontaktverbot sind notwendig, dennoch bergen sie ein Dilemma: "Unser Hauptziel war und ist die Teilhabe und Inklusion unserer KlientInnen. Seit mehr als einem Jahr müssen wir dieses Ziel auf den Kopf stellen, Teilhabe weitmöglichst reduzieren, Begegnungen mit anderen Menschen vermeiden", sagt Hanslmeier-Prockl.
Spaziergänge mit Angehörigen wieder möglich
Die BewohnerInnen kaufen wieder selbst ein und kochen gemeinsam in den Wohngemeinschaften. Der Teilhaberadius der BewohnerInnen vergrößert sich: Sie treffen sich im Freien mit anderen Wohngruppen und halten Kontakt über Telefon oder digitale Medien. Es gibt auch eine Facebook-Gruppe "Mia im EVS dahoam", bei der Grüße und Bilder von genähten Masken, gebackenen und verzierten Kuchen oder anderen Freizeitbeschäftigungen eingestellt werden. Angehörige holen die BewohnerInnen wieder zu Spaziergängen und Tagesausflügen ab.
Wochenweise Werkstatt: BewohnerInnen einer Wohngruppe arbeiten gemeinsam in der Ausweichwerkstatt in der Mehrzweckhalle des EVS.
Verringerte Produktion: Die Auslastung der Werkstätten liegt bei 50 Prozent. Dadurch produziert der EVS deutlich weniger.
August 2020
Alle MitarbeiterInnen des Einrichtungsverbundes können an freiwilligen Reihentestungen teilnehmen. Die Tests finden vor Ort in Fendsbach und Steinhöring statt. Es stellt sich eine neue Form der Normalität in der Krise ein.November 2020
Binnen weniger Tage werden zehn Corona-Fälle im EVS gemeldet. Drei Personen in Steinhöring und sieben in Fendsbach müssen sich in Quarantäne begeben. "Das war bis dato unsere schlimmste Situation", sagt Hanslmeier-Prockl und fügt hinzu "Gott sei Dank hatten wir aber bisher keinen wirklich schweren Verlauf."Neue Wege, klare Regeln: Für KlientInnen sind insbesonders die Metacom-Symbole zum Verständnis wichtig.
Feiern in Kleingruppen: Am Adventsplatz am Steinhöringer Café Wunderbar begingen die Wohngruppen bei Kerzenschein und Lagerfeuer corona-konform kleine Advents- und Weihnachtsfeiern.
Dezember 2020
Mitte Dezember schließt der Landkreis Erding alle Werkstätten und Förderstätten, der Inzidenzwert ist über 300.Kurz vor Weihnachten werden alle Schulen und Kitas geschlossen. Die MitarbeiterInnen werden wieder in die Wohnbereiche versetzt. Eine Testpflicht für alle Mitarbeitenden des EVS, die Kontakt zu BewohnerInnen haben, wird eingeführt. Dies trifft neben den Angestellten in den Wohneinrichtungen auch die der Förderstätten, Werkstätten, Verwaltung, Haustechnik und Hauswirtschaft "Seit Weihnachten machen wir zwischen 600 und 1.200 Tests pro Woche", erklärt die Leiterin des EVS. Hierfür wurden am Standort Steinhöring und in Fendsbach Testzentren eingerichtet. BesucherInnen müssen ein negatives Testergebnis vorweisen.
Quarantäne zuhause
Auch BewohnerInnen, die auf Heimatbesuch waren, müssen bei ihrer Rückkehr ein negatives Testergebnis vorweisen. Die Angehörigen werden gebeten, die KlientInnen nicht regelmäßig über das Wochenende abzuholen, sondern im Zwei- bis Drei-Wochenrythmus und dann dafür in der Arbeitsfreien Woche eine ganze Woche, um nach Familientreffen eine fünftägige Quarantäne zuhause zu leisten. Damit sollen auch die BewohnerInnen geschützt werden, die durchgängig in der Gemeinschaft verbleiben, weil sie keine Angehörigen mehr haben.
Januar 2021
Die Testpflicht im Erwachsenenbereich wird ausgeweitet und findet nun dreimal in der Woche statt. Zudem bietet der EVS auch für alle weiteren MitarbeiterInnen freiwillige Reihentests in Kooperation mit Hausärzten und Teststellen an. Für die Schnelltests werden MitarbeiterInnen des EVS unterwiesen und beauftragt. Die Infrastruktur und interne Abläufe für den Impfstart sind organisiert, die Impfeinwilligungen der Angehörigen und rechtlichen BetreuerInnen sind eingeholt. Gemeinsam mit den MitarbeiterInnen erstellt die Leiterin des EVS Kriterien für eine Prioritätenliste und entsprechende Reserveliste. Mitte Januar wird die Impfordnung aktualisiert und Menschen mit Behinderung werden priorisiert.Impfungen beginnen
Ende Januar kommen die ersten mobilen Impfteams nach Fendsbach und Steinhöring und die Impfungen beginnen. Priorität bei der Impfung haben die BewohnerInnen im vollstationären Bereich. Viele ihrer Angehörigen und gesetzlichen Betreuer haben sich zum Wohle der BewohnerInnen für eine Impfung entschieden. Die Impfquote liegt bei weit über 90 Prozent.
Endlich impfen: Ende Januar 2021 kommen die ersten mobilen Impfteams nach Steinhöring und Fendsbach. Foto: DoroTSchenk/pixabay
Testen, testen, testen: Wöchentlich benötigt der EVS rund 1.200 Schnelltests. Foto: Alexandra Koch/pixabay
Februar 2021
Zur Bewältigung der Testpflicht wird für den Standort Fendsbach die Bundeswehr angefordert.März 2021
Alle impfwilligen Mitarbeitenden des EVS sowie alle externen und internen KlientInnen ab 16 Jahren haben die Erstimpfung erhalten. Neben den bereits praktizierten Reihentest wird für Schulen und Kitas die Regelung für Selbststests umgesetzt.Botschaft aus Blüten: Im vergangenen Jahr konnten nur vereinzelt Aktionen für die KlientInnen stattfinden. Im Sommer wurde aus Blumen der Schriftzug "EVS-Mia hoitn zsamm" gestaltet.
Ausblick
Nach den Impfungen, sollen die Kohorten sanft vergrößert werden, damit wieder mehr Kontakte möglich sind. Dies ist abhängig von den geltenden Regelungen. Der EVS würde in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiern. Es wäre schön, wenn zumindest ein internes Fest möglich wäre.Die Gesamtleiterin schätzt die gute Zusammenarbeit mit dem Bezirk Oberbayern, der die Einrichtungen in dieser schwierigen Zeit finanziell stabilisiert hat und hofft, dass in den kommenden Jahren aufgrund der enormen Ausgaben während der Pandemie, die Leistungen in der Behindertenhilfe nicht reduziert werden. "Eine Katastrophe wäre, wenn die Folgen von Corona wären, dass wir dringend erforderliche Sanierungen und Neubauten zur Kapazitätserweiterung nicht finanzieren könnten, denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir die Bedarfe der Menschen in unserem Zuständigkeitsbereich bedienen können", schildert Hanslmeier-Prockl.
Wirtschaftliche Verluste
Wirtschaftliche Verluste mussten dennoch bereits hingenommen werden. Die Refinanzierung der Frühförderungen und die fehlenden Einnahmen der Werkstätten können trotz staatlicher Hilfen nicht kompensiert werden. Geplant ist, dass im Sommer 2021 die BewohnerInnen mit ihrer jeweiligen Wohngruppe zumindest im Inland wieder kleine Reisen unternehmen können. Statt Zeltlager in Italien soll in diesem Jahr ein Zeltlager am Chiemsee veranstaltet werden.
Protokoll: Angelika Slagman
Wohnen mit Freunden:In den Wohnhäusern und Außenwohngemeinschaften des EVS leben rund 300 Menschen mit geistigen, körperlichen und seelischen Behinderungen.
Der Einrichtungsverbund Steinhöring (EVS) Der Einrichtungsverbund Steinhöring unterstützt Menschen mit Behinderung dabei, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Rund 950 MitarbeiterInnen fördern und begleiten Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit körperlicher, geistiger, seelischer und mehrfacher Behinderung in den Landkreisen Ebersberg und Erding. Zum Verbund gehören Frühförderstellen, Kinderhäuser, Schulen, Heilpädagogische Tagesstätten, Werkstätten, Wohnbereiche sowie Förder- und Senioren-Tagesstätten. Im Rahmen von vielfältigen inklusiven Ansätzen und Projekten werden Orte gestaltet, an denen Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlich miteinander spielen, lernen, arbeiten oder in direkter Nachbarschaft wohnen.