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02.05.2023 - 35 Jahre Betreuung straffälliger junger Menschen: Keiner wird aufgegeben


Die soziale Betreuung junger Straftäter stellt vor große Herausforderungen. Es gilt, den Menschen hinter der Tat zu erkennen, den richtigen Weg aufzuzeigen und sich nicht entmutigen zu lassen, wenn die Betreuten rückfällig werden. Seit 35 Jahre kümmert sich die KJF um die jungen Untersuchungsgefangenen in der Justizvollzugsanstalt in München-Stadelheim. Die letzten 23 Jahre hat diese Aufgabe die Sozialpädagogin Anja Moser inne. Ein Besuch in "ihrem" Zellentrakt.

Das Foto wurde von der Zellentür aus gemacht. Am Fußende des Bettes befindet sich ein kleines abgetrenntes Kämmerchen mit Toilettenschüssel und Waschbecken. Alle Fotos: Gabriele Heigl/KJF
Wenn Anja Moser (53) zur Arbeit geht, hat sie nur einen wertvollen Gegenstand bei sich: einen Schlüsselbund - groß, schwer, mit vielen verschiedenen Schlüsseln dran. Sie ist es gewohnt, auf dem Weg vom Gebäudehaupteingang zu ihrem Büro praktisch jede einzelne Tür mit einem Schlüssel öffnen zu müssen. Ihr Büro liegt in der Münchner Justizvollzugsanstalt (JVA) in der Stadelheimer Straße. Seit fast 23 Jahren geht sie hier ein, aber jeden Tag auch wieder aus - anders als die jungen Männer, um die sie sich hier kümmert. Sie müssen einsitzen. 

Bevor man Anja Moser besuchen kann, muss man Handy, Geld und Autoschlüssel in einem Schließfach einschließen. Dann geht es durch viele Flure, treppauf und treppab, vorbei an mehreren JustizvollzugsbeamtInnen, die Anja Moser allesamt freundlich grüßen. Schließlich öffnet sie als letzten Raum ihr Büro. Bevor wir eintreten, deutet sie den Gang entlang: "Auf diesem Flur liegen die Zellen aller meiner Klienten." Schräg gegenüber ihrem Büro der Wachraum der BeamtInnen. Darin viele Bildschirme, mithilfe derer das Treiben auf dem Gang und in den Gemeinschaftsräumen beobachtet werden kann. Unweit vom Wachraum ein Zimmer, das das Türschild als das Büro einer Psychologin ausweist. Im Gang riecht es nach einfachem Kantinenessen und Zigarettenrauch. Und ein wenig nach Jugendherberge.

Häftlinge mit besonderem Betreuungsbedarf

"Es war schon immer die Aufgabe der Kirchen, sich um die Gefallenen der Gesellschaft zu kümmern." Mit diesem Satz startet Anja Moser das Gespräch. Ihre Stelle in der JVA als Haftbetreuerin und externe Suchtberaterin gibt es bei der KJF seit genau 35 Jahren. Seit einigen Jahren ist die Stelle der KJF-Einrichtung Erziehungshilfezentrum Adelgundenheim zugeordnet. Im Sinne des Gründungsgedankens der Katholischen Jugendfürsorge werden diejenigen jungen Menschen während der Untersuchungshaft betreut, die aufgrund von Alter, Tatvorwurf, psychischer oder physischer Beeinträchtigung einen besonderen Betreuungsbedarf haben.

Links und rechts des Gangs gehen die einzelnen Zellenräume ab.
Anja Mosers Klienten sind 25 junge Untersuchungshäftlinge, 14 bis 21 Jahre alt. Ihnen werden schwere Taten zur Last gelegt, auch Tötungsdelikte. Manche von ihnen sind Mehrfachtäter. Das Gericht legt fest, wer von der Sozialpädagogin betreut wird oder betreut werden muss. Sie kennt die Taten, deren die jungen Männern beschuldigt werden; sie kann auch Akteneinsicht nehmen. Mit der Tat befasst sie sich aber erst nach einem ersten Gespräch: "Ich will zunächst den Menschen kennen lernen." Die Delikte seien so individuell, wie es die Persönlichkeiten sind. "Man muss den Mut aufbringen, zu versuchen, beides, - den Menschen und die Tat - zu verstehen." Sie beschönigt nichts: "Wer so jung ins Gefängnis kommt, hat ein wirklich schweres Delikt begangen. Das Gericht ist dann der Ansicht, dass alle sonstigen Mittel nichts mehr bewirken können."

Große Freude über geriebenen Gouda

Vor der Bürotür rumort es plötzlich. "Ah, das sind meine Jungs." Anja Moser holt einen zum Gespräch dazu. Man merkt, dass die "Jungs", ihre Klienten, gern zu ihr kommen. Bereitwillig erzählt er vom Gefängnisalltag. Zweimal sei er bereits zu einem zweiwöchigen Jugendarrest verurteilt worden, mit dem letzten Delikt sei er um das Gefängnis nicht mehr herumgekommen. Der Umgang zwischen ihm und Anja Moser ist vertraut, fast jovial, dennoch respektvoll. Aber sie ist es, die die Linie vorgibt. Sie duzt ihn, er siezt sie. Als sie ihn auffordert, vom Ampel-System zu erzählen, legt er bereitwillig los.

Einmal in der Woche werden Bewertungen vergeben. Wer sich gut benommen hat, bekommt mehr Punkte und kann sich von Rot zu Gelb auf Grün vorarbeiten. Dabei geht es etwa um die Sauberkeit der Zelle, Einhaltung der Höflichkeitsregeln (bitte, danke), nicht fluchen, nicht schlägern und sich anderen gegenüber respektvoll verhalten. Rot bedeutet Standardhaft gemäß aller strengen Vorschriften, etwa keine Erlaubnis zur Teilnahme am Aufschluss. Wer massiv gegen die Hausordnung verstößt, etwa durch Schlägereien oder Beamtenbeleidigungen muss mit Disziplinarstrafen rechnen, etwa Einzelhaft. Diese bedeutet unter anderem Entzug aller privaten Sachen, auch von Büchern. Ausnahme: Schulsachen, den Koran und die Bibel. "Manche haben hier die Bibel schon dreimal gelesen", meint Anja Moser mit trockenem Humor, und ergänzt: "Auch die Kinderbuch-Reihe TKKG steht ihnen in der Einzelhaft zur Verfügung."

Zurück zur Ampel. Bei Gelb gibt es Lockerungen. Der Goldstandard ist Grün, dann nimmt man beispielsweise am Aufschluss teil (zwischen 8:30 und 15 Uhr) und darf jeden Tag in der Gemeinschaftsküche kochen. Etwas Besonderes darf man sich unter letzterer übrigens nicht vorstellen; sie ist mit dem Allernötigsten ausgestattet. Am liebsten wird Pizza gebacken, die mit Mehl gestreckt wird, damit sie für mehr Leute reicht. Das Highlight der Pizzabäckerei: Wenn einer im Laden geriebenen Gouda ergattert. Hefe gibt es keine im Gefängnis ebenso wenig wie Tafeltrauben, denn man möchte die Produktion von Alkohol verhindern.

Die umlaufende Mauer an der Stadelheimer Straße mit Wachposten. Außen wie innen ist die Kamera-Dichte hoch.
 

Der Blick von innen nach außen in einen der Innenhöfe, in denen sich die Einsitzenden zu bestimmten Zeiten auch aufhalten dürfen. 
"Gefangenschaft macht demütig"

Anja Moser hat die pädagogische Leitung der Station inne. Der eine ihrer Aufgabenbereiche, der Sozialdienst, wird von der KJF finanziert, der andere, die externe Suchtberatung, erfolgt durch Mittel des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege (ebenso wie die Stelle der Psychologin im Flur gegenüber). Diese Konstellation ist etwas Besonderes, also dass ein pädagogisches Angebot von einem freien Träger - der KJF - und damit von extern kommt. Anstaltsleiter Michael Stumpf ist dankbar für die Arbeit von Anja Moser; auch die JVA hat ein Interesse daran, die jungen Männer gut untergebracht zu wissen. Anja Moser schätzt das Vertrauen, das ihr von der Anstaltsleitung entgegengebracht wird, und die Freiheit für ihre Arbeit, die mit ihr einhergeht. Sie spricht von einem sehr guten Verhältnis. " Wir versuchen, mit einer Zunge zu den Gefangenen zu sprechen. Die Uniformierten sind nicht die Bösen und wir die Guten."

Einige der jungen Gefangenen müssen vor allem am Anfang psychologisch aufgefangen werden. Nicht selten sitze ein "heulendes Elend" vor ihr. Da sei aber auch viel Selbstmitleid im Spiel. Dennoch: "Gefangenschaft macht demütig." Hin und wieder habe sie das Gefühl, einen Gefangenen vor seiner eigenen schlimmen Tat beschützen zu müssen. Nicht immer erweist sich der zwischenmenschliche Umgang mit einem Gefangenen dabei als einfach. "Wir können aber niemanden abweisen. Wir sind zuständig und müssen einen Weg finden."
 
Aus dem Gefängnisalltag

Die Gefangenen haben die Möglichkeit in einer Holzwerkstatt zu arbeiten; den meisten macht das Spaß, auch weil sie ein paar Cents hinzuverdienen können. "Manchmal bekommen wir dort auch einen Bienenstich geschenkt oder Zigaretten, auch mal eine Red-Bull-Dose", erzählt einer der Häftlinge.

Arbeitsbeginn ist um 7, -ende um 15 Uhr. Danach können sie bis 23 Uhr fernsehen. Das Gerät, das jeder in seiner Zelle hat, schaltet automatisch ab. An diesem Abend startet "Germany's Next Top Model"; das wollen alle sehen. Der interessanteste Teil der Sendung, der Rauswurf der Kandidatinnen, die es nicht in die nächste Runde geschafft haben, läuft allerdings komplett nach 23 Uhr.

Am Wochenende ist von 16:15 bis 19 Uhr "Aufschluss", das heißt, die Gefangenen können sich im Zellentrakt frei bewegen. Der Fernseher kann dann von 19 Uhr ab die ganze Nacht genutzt werden. Beliebtester Sender: Sport 1, weil da ab ein Uhr erotische Clips laufen.

Finanzen: In der Werkstatt können sie ein bisschen was verdienen, manche bekommen Unterstützung von der Familie und von Freunden. Mehr als etwa 250 Euro im Monat hat aber keiner zur Verfügung.

Besuch: Die Gefangenen können viermal für je eine Stunde im Monat Besuch bekommen.
Religion ist hier nicht peinlich

Womit die jungen Gefangenen am meisten zu kämpfen haben, sind der Kontroll- und der Freiheitsverlust, dass also alles bestimmt wird. Sie befinden sich in einer gewaltigen psychologischen Ausnahmesituation. Der Begriff der Fürsorge sei für sie zentral, meint Anja Moser: "Wir begleiten sie durch diese Zeit, in der ihnen klar wird, dass ihr Leben jetzt in dieser Art reduziert sein wird, dass sie mit dem Schmerz der Familie zurechtkommen müssen, und dass sie ihre Freundinnen und Freunde nicht mehr und vielleicht nie mehr sehen werden. Meine Aufgabe liegt darin, dem jeweiligen Klienten zu vermitteln: Ich sehe dich als Mensch, und ich gebe dich nicht verloren.“

Von hier aus ist es nur ein kurzer Schritt zum Thema Glauben, auch für die Gefangenen. "Religion ist im Gefängnis für die jungen Männer nichts Peinliches oder Komisches, so wie es draußen in dieser Altersgruppe ist." Auf dem Gelände der JVA gibt es eine Kirche, Gottesdienste werden gefeiert, Muslime bekommen die Möglichkeit, Gebetszeiten einzuhalten, auch ein Imam kommt vorbei. Gebetsketten und Rosenkränze bei sich zu tragen, ist nichts Ungewöhnliches unter den jungen Gefangenen. Die Bibel kann man in etwa 80 Sprachen bekommen; auch der Koran ist in vielen Sprachen vorhanden.
 

"Es ist eine Illusion, zu glauben, dass alles wieder gut wird, nachdem sie in meiner Betreuung waren. Wer bin ich denn, zu glauben, dass es so einfach geht? Die Welt draußen bleibt ja dieselbe."

Anja Moser, Sozialpädagogin in der Straffälligen-Betreuung bei der KJF


Einkaufen können die Gefangenen zweimal im Monat. In erster Linie Lebensmittel, aber auch den Playboy.
 

Keine Namen an den Zellentüren.
Der Gefängnisaufenthalt bringt auch weiteres Segensreiches für die jungen Männer mit sich. Neben der Zeit zum Nachdenken und dem erzwungenen Drogenentzug, wirken sich Schulbesuch und Arbeit positiv aus. Beides gibt Perspektiven und Tagesrhythmus und nicht zuletzt Ablenkung. Anja Moser: "Die Gefangenschaft ist wie eine Auszeit. In dieser Situation kann man sich um ihre Schulden, ihre Zähne, ihre Sauberkeit, ihren Lernfortschritt kümmern." Positiv sei auch, dass im Gefängnis die Gespräche mit den Eltern manchmal besser verlaufen als draußen. Natürlich kommen die meisten aus einem schwierigen, auch gewaltbehafteten Umfeld. "In den Gefängnissen landet der Bodensatz der Gesellschaft. Wir lassen so viele runterfallen", sagt Anja Moser.

Aber immer wieder begeistert es sie, wie viel Menschen aushalten können. Und gibt aber gleichzeitig zu, dass sie manchmal rumschreien müsse, und dass sie einen Häftling am liebsten auch mal schütteln würde, damit der endlich aufwacht. Ist es nicht schrecklich frustrierend, wenn nach Haft, Betreuung und Freilassung einige wiederum in einer der Zellen neben ihrem Büro landen? "Nein, gar nicht", sagt Anja Moser, ohne darüber groß nachzudenken. "Es ist eine Illusion, zu glauben, dass alles wieder gut wird, nachdem sie in meiner Betreuung waren. Wer bin ich denn, zu glauben, dass es so einfach geht? Die Welt draußen bleibt ja dieselbe."

Text und Fotos: Gabriele Heigl, KJF-Pressesprecherin

Die Kirche Heilige Maria mitten auf dem Gelände der JVA. Dort finden auch Andachten und Gottesdienste statt.
 

Blick in einen der Innenhöfe. Die außen aufgemalten Zellennummern erleichtern den BeamtInnen die Zuordnung - sollte es einen Zwischenfall geben, etwa einen Ausbruchsversuch.

Zweimal im Monat können die Gefangenen Besuch empfangen. Im Besuchsraum sind die Gefangenen und BesucherInnen durch eine Glascheibe voneinander getrennt. Eine Beamtin oder ein Beamter ist immer mit im Raum.
 

"Freiheit beginnt im Kopf" - Informationsblatt am Schwarzen Brett.